Normalerweise achtet er nicht auf die Nummer. Längst ist sie Teil seines Körpers geworden. Doch wenn er vor Schulklassen seine Geschichte erzählt und dann den linken Hemdsärmel langsam nach oben krempelt, ist es jedes Mal Ritual und Risiko zugleich: Nie weiß Marian Majerowicz, welche Gedanken und Gefühle im nächsten Moment hochkommen.
In seiner Warschauer Wohnung schießen dem heute 88-Jährigen die Tränen in die Augen. Mit einem großen Taschentuch trocknet er das Gesicht. Wortlos. »Zählen Sie mal die Ziffern zusammen: 1+5+7+7+1+5! Es ist eine ganz besondere Nummer«, sagt er wieder gefasst. »Sie haben mir in Auschwitz eine Lebensnummer gegeben. Die 26 – mein Geburtsjahr.«
Jedes Jahr fährt Majerowicz am Jahrestag der Befreiung des NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau in die südpolnische Stadt Oswiecim. »Aber aus meiner Familie wurde dort niemand befreit. Erst schickten die Nazis meine Mutter und meinen damals dreijährigen Bruder ins Gas. Dann musste ich mich von meinem Vater verabschieden. Bevor die Rote Armee in Auschwitz eintraf, war ich schon auf dem Todesmarsch.«
Militär Dass Majerowicz heute wie ein 65-Jähriger wirkt, durchtrainiert und geistig wach, kommentiert er mit einem Schulterzucken. Ohne eine robuste Gesundheit hätte er Auschwitz und den Todesmarsch nicht überleben können. Auch Disziplin gehörte dazu. Nach dem Krieg holte der damals 18-Jährige das Abitur nach, besuchte die Offiziersschule und schlug eine Militärlaufbahn ein.
»Bis heute mache ich jeden Tag Morgengymnastik, außerdem habe ich so viele Aufgaben, dass manchmal der Tag nicht ausreicht, um alles zu erledigen.« So sei er Vorsitzender des Verbandes jüdischer Kriegsveteranen und Opfer des Zweiten Weltkriegs in Warschau, arbeite mit der Organisation »Kinder des Holocaust« in Polen und dem Maximilian-Kolbe-Werk in Deutschland zusammen. Immer wieder spreche er als Zeitzeuge vor Schülern.
»Als der Krieg ausbrach, war ich 13. Wir lebten in Myszkow in Oberschlesien«, erzählt er. Die Verhältnisse seien einfach gewesen, aber niemand beklagte sich, man kam über die Runden. Der Vater Boruch Chaskiel Majerowicz war Schneider und hatte gut zu tun. Mutter Rifka kümmerte sich um den Haushalt und die drei Kinder.
»Mit der Ankunft der Deutschen verschlechterte sich die Situation für uns Juden dramatisch, aber richtig schlecht wurde es 1942. Da führten die Nazis die ›Aktion Judenrein‹ durch. Wir wurden ins 13 Kilometer entfernte Ghetto Zawiercie deportiert.« Majerowicz schluckt, schweigt einen Moment: »Wir hatten entsetzlichen Hunger. Die Wohnung war ein nasses Loch.« 1943 wurde das Ghetto aufgelöst, die Familie getrennt. Die Eltern und die beiden Brüder mussten den Zug nach Auschwitz besteigen. Er selbst und 100 kräftige Jungen leisteten weiterhin Zwangsarbeit in Zawiercie. »Aber nur drei Monate. Dann waren auch wir in Auschwitz.«
Der alte Mann hält wieder inne: »Es ist schwer zu erzählen. Mein Vater kam auf mich zu. Ich habe ihn nicht erkannt. Er erzählte mir, dass sich Mama bei der Selektion auf der Rampe nicht vom dreijährigen Rublik trennen wollte.« Sie seien beide sofort ermordet worden.
Hölle Dass die Nummer, die dann auf seinem Unterarm eintätowiert wurde, eine ganz besondere gewesen sei, hätten sein Vater und er sofort bemerkt. »Wir haben das als Zeichen des Schicksals angesehen: Ich würde diese Hölle überleben.« Jeden Tag hätte es Selektionen in den Häftlingsbaracken gegeben. Im Januar 1944 habe es seinen Vater getroffen. »Ich habe mein Brot gegen zwei Zigaretten eingetauscht. Dann haben wir uns umarmt und uns verabschiedet. Vater rauchte noch die Zigaretten. Am nächsten Tag sah ich, wie er ins Gas ging.«
Majerowicz räumt den Wohnzimmertisch auf, um sich zu fassen. Er stapelt die Papiere, verstaut alles wieder in der Schublade und erzählt weiter: Nachdem sein Vater ermordet worden war, habe es wieder eine Selektion gegeben. Ausgewählt wurden diesmal junge, kräftige Häftlinge. »Wir kamen nach Jaworzno in ein Nebenlager und mussten im Kohlebergwerk schuften.«
Er steht auf, streckt sich, setzt in der kleinen Küche Wasser auf und deckt den Tisch. »Am 18. Januar 1945, als die Rote Armee schon vor Tschenstochau stand, lösten die Deutschen das KZ Auschwitz-Birkenau auf. Es war entsetzlich kalt. In Jaworzno luden sie uns in einen offenen Güterwaggon. Ich war kurz vor dem Erfrieren.« Es ging zurück nach Auschwitz. Doch die Gaskammern arbeiteten nicht mehr.
Die Todesmärsche begannen. »Als wir losgingen, waren wir 1200 Häftlinge. Vier Monate später waren nur noch 106 übrig. Alle anderen waren auf dem Marsch erfroren, verhungert, an Ermüdung und Schwäche gestorben.« Manchmal wollten ihnen Polen und später Deutsche am Straßenrand Brot zuwerfen, Kartoffeln oder ihnen etwas zu trinken geben. »Die wurden sofort erschossen.«
Pogrom Marian Majerowicz schenkt Tee ein. Er ist erleichtert, das Schlimmste schon erzählt zu haben. Nach Kriegende wollte er nur eines: »Nach Hause! Ich hoffte, irgendjemanden wiederzutreffen, zumindest von der entfernteren Familie, von den alten Freunden oder Nachbarn.« Doch in Myszkow traf er nicht nur niemanden von der Familie. In der früheren Wohnung wohnten jetzt Fremde. Als drei zurückkehrende Schoa-Überlebende in Myszkow ermordet wurden, flohen die Heimkehrer in Panik.
»Später half mir ein Pole, den ich von früher kannte. Er holte mich nach Klodzko, ins frühere Glatz, und gab mir Arbeit als Koch bei der Kommunistischen Partei.« Majerowicz trat dann auch in die Partei ein, glaubte an einen Neuanfang und eine bessere Zukunft. Er bezog eine von den Deutschen verlassene Wohnung. »Irgendwie hat mich dann mein älterer Bruder gefunden. Er hatte in Deutschland Zwangsarbeit geleistet und auch überlebt. Wir haben dann unser Leben neu begonnen.«
Jetzt im Alter, wenn er auf die letzten Jahrzehnte zurückblicke, kämen ihm mitunter Zweifel. »Vielleicht wäre es doch besser gewesen, nach dem Krieg nach Israel auszuwandern oder in die USA, wie das die meisten polnischen Schoa-Überlebenden taten. Aber es ist eben so gekommen, wie es gekommen ist.«