Rabbiner Goldschmidt, die Europäische Rabbinerkonferenz hat vergangene Woche im Élysée-Palast in Paris Staatspräsident Emmanuel Macron einen Preis verliehen und damit große Irritationen in Frankreich ausgelöst. War das klug?
Nicht unser Lord-Jakobovits-Preis war das Problem, sondern das Zünden der Chanukkakerze durch Oberrabbiner Haïm Korsia. Ich kann die Kritik daran aber nicht nachvollziehen. Im Élysée steht schließlich auch ein Weihnachtsbaum.
Die Kritik entzündete sich doch eher an der Tatsache, dass Macron in seinem Amtssitz eine religiöse Zeremonie zuließ.
Im Weißen Haus in Washington und auch in vielen Hauptstädten Europas ist so etwas seit Jahren völlig normal.
Aber nicht im laizistischen Frankreich.
Sicher, Frankreich ist ein sehr säkularer Staat. Aber Präsident Macron hatte uns bewusst in den Élysée-Palast eingeladen. Er wollte ein klares Zeichen der Solidarität und Verbundenheit setzen mit der jüdischen Gemeinschaft, die vielen Anfeindungen ausgesetzt ist. Solch öffentliche Unterstützung ist sehr wichtig, gerade in diesen Zeiten.
Allerdings verändert Macron fast täglich seine Haltung zu Israel. Neulich warf er Israel vor, Babys im Gazastreifen zu töten. Warum die Veranstaltung gerade jetzt?
Sowohl der Preisträger als auch das Datum der Verleihung standen schon vor dem 7. Oktober fest. Aber unabhängig davon ist klar: Den Juden in Frankreich geht es weitaus besser als denen in anderen Ländern. Wenn ich die Zeitungen aufschlage, lese ich nichts von brennenden Synagogen oder geschändeten Friedhöfen oder von Juden, die auf offener Straße angegriffen werden. Wenn man das vergleicht mit dem Rest Europas, macht Macron gar keinen so schlechten Job.
Liegt das nicht eher daran, dass die französischen Juden überwiegend säkular sind und daher weniger sichtbar?
Die sind sehr wohl sichtbar. Es gibt allein in Paris rund 200 koschere Restaurants, Hunderte von Synagogen und Zehntausende Menschen, die öffentlich mit Kippa herumlaufen. Die französische Regierung macht also einen guten Job. Man sollte das nicht kleinreden.
Was ist mit den anderen europäischen Ländern? Es gibt mittlerweile allerhand Strategien und Beauftragte gegen Antisemitismus. Und doch steigt die Zahl der registrierten Vorfälle vielerorts an.
Insgesamt ist die Unterstützung, die wir vonseiten der europäischen Regierungen bekommen, gut. Natürlich gibt es bessere Länder und schlechtere, auch im Hinblick auf die Reaktion nach dem 7. Oktober. Deutschland gehört zu den besseren – auch wenn ich glaube, dass die Regierung zum Beispiel im Land Berlin noch mehr tun könnte.
Und welche sind die schlechteren?
Irland hat sich zum Beispiel unmöglich verhalten. Und auch mit der belgischen Regierung bin ich sehr unzufrieden.
Wie viel Einfluss können Regierungen überhaupt nehmen? Ist das Problem des Antisemitismus nicht in erster Linie ein gesellschaftliches?
Ich würde zwischen der Zivilgesellschaft, der Politik sowie Polizei und Justiz trennen. Wenn diese drei Hand in Hand arbeiten, werden wir durchaus Erfolge im Kampf gegen diese Welle des Antisemitismus erleben. Ein Bereich, in dem ich Probleme sehe, sind die Universitäten. Von grassierendem Antisemitismus sind nicht nur die Ivy-League-Unis in den USA betroffen. In anderen Ländern ist wiederum die extreme Rechte stark geworden, weil sich die Menschen wegen islamistischer Tendenzen unter Muslimen große Sorgen machen. Schauen Sie nur in die Niederlande: Dort ist die Wilders-Partei doppelt so stark geworden wie die zweitplatzierten Sozialdemokraten von Frans Timmermans.
Parteien wie die von Geert Wilders und die deutsche AfD behaupten gern, sie seien die wahren Garanten für den Schutz jüdischen Lebens. Nehmen Sie ihnen das ab?
Nein. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtiger ist die Frage, warum so viele Menschen diese Parteien und ihre Anführer wählen. Die Antwort ist einfach: Unsere Regierungen werden mit dem Problem der Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft nicht fertig.
Sollten Vertreter der jüdischen Gemeinschaft mit solchen Parteien reden, wenn diese an die Macht kommen?
Was soll es bringen, eine gewählte Regierung zu boykottieren. Aber bevor solche Parteien an die Macht kommen, sollten jüdische Gemeinden ihre Stimme gegen sie erheben. So passiert es ja auch fast überall in Europa.
Ist Israel nach dem, was am 7. Oktober passiert ist, noch ein sicherer Hafen für Europas Juden?
Für viele Juden außerhalb Israels war der 7. Oktober ein großer Einschnitt. Denn sie hatten plötzlich das Gefühl, dass ihnen ihre Lebensversicherung genommen wurde. Vielleicht wird das gerade wieder in Ordnung gebracht, aber das totale Versagen von israelischer Regierung, Armee und Geheimdiensten war ein Schock. Auf der anderen Seite mussten viele eher links orientierte Juden erfahren, wie Freunde oder vermeintliche Verbündete das Narrativ der Hamas nachplapperten und die Hinrichtungen und Vergewaltigungen durch die Terroristen der Hamas verharmlosten. Für viele war das ein Weckruf. Wir haben jetzt gesehen, wer unsere Freunde sind und wer nicht.
Inwiefern waren die Reaktionen der europäischen Staaten diesmal anders als bei früheren bewaffneten Auseinandersetzungen in Nahost?
Sie waren zumindest anfangs israelfreundlicher. Auch in Europa wird weithin verstanden, dass die Hamas eliminiert werden muss, wenn es einen dauerhaften Frieden geben soll. Nicht nur wegen der Menschen in Israel, sondern auch wegen der Menschen in Gaza. Das hat vergangene Woche auch Emmanuel Macron klargemacht. Und selbst der Linksaußen Bernie Sanders in den USA sieht es so. Er hat klargemacht, dass man mit Hamas keinen dauerhaften Waffenstillstand schließen kann.
Hat das Judentum in Europa eine Zukunft?
Wenn wir auf Russland schauen, habe ich meine Zweifel. Je autoritärer dieses Land wird, desto weniger Juden werden dort verbleiben. Was die Ukraine angeht: Wenn es einen Marshallplan geben wird, mit dem nach dem Ende des Krieges alles wiederaufgebaut wird, sehe ich durchaus Chancen, dass das jüdische Leben dort wieder erblüht. Und was die EU-Länder angeht: Viel hängt davon ab, ob es extreme Parteien an die Macht schaffen, und ob Europa ein Raum bleiben wird, der Freiheit, Sicherheit und Vielfalt auch für Juden garantieren kann.
Mit dem Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER) sprach Michael Thaidigsmann.