Vor drei Jahren verhängten die beiden größten belgischen Regionen, Flandern und Wallonien, ein komplettes Verbot des Schlachtens von Tieren ohne vorherige Betäubung. Zuvor hatte es für das rituelle Schächten Ausnahmen gegeben.
Besonders betroffen von der Maßnahme waren vor allem die Juden in Antwerpen. Rund 20.000 zumeist ultraorthodoxe Juden leben in der flämischen Metropole. Die meisten von ihnen verzehren nur koscheres Fleisch - sofern sie sich nicht vegetarisch ernähren.
VERFASSUNGSBESCHWERDE Bis zu dem Bann konnte dieses in belgischen Schlachthöfen produziert werden – seitdem ist das Schächten allerdings nur noch in der Hauptstadtregion Brüssel erlaubt. Koscher geschlachtet wird dort aber nicht; das nach jüdischen Speisegesetzen hergestellte Fleisch wird seitdem aus dem Ausland importiert.
Für Generalanwalt Gerard Hogan verstößt das flämische Verbotsdekret gegen EU-Recht.
Gegen das Verbot in Flandern, das dort von einer breiten Koalition politischer Parteien verabschiedet wurde, hatten jüdische und muslimische Dachverbände Klage vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof eingereicht. Sie sahen sich in ihren Grundrechten, insbesondere in Bezug auf die Freiheit der Religionsausübung, verletzt. Das oberste belgische Gericht legte die Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vor.
Im Juli wurde die Problematik vor den Richtern in Luxemburg verhandelt, und bis zu einem Urteil dürften noch einige Monate vergehen. Doch am Donnerstag gab nun der Generalanwalt des Gerichtshofs sein Rechtsgutachten zu dem Fall ab.
AUSNAHMEN Für Generalanwalt Gerard Hogan verstößt das flämische Verbotsdekret gegen EU-Recht, weil es keine Ausnahmen für die betroffenen Religionsgemeinschaften vorsieht. Den EU-Mitgliedstaaten sei es nicht gestattet, Vorschriften zu erlassen, die zum einen ein Verbot der Schlachtung von Tieren ohne Betäubung, das auch für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung gilt, und zum anderen ein alternatives Betäubungsverfahren für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung vorsehen, das so gestaltet ist, dass die Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod des Tieres herbeiführen darf. Das flämische Dekret sei nicht vereinbar mit den in der EU-Grundrechtecharta enthaltenen Garantien zur Religionsfreiheit.
In der Regel folgen die Luxemburger EU-Richter den Empfehlungen der Generalanwälte.
Die Ausnahmeregelung im EU-Recht für religiöses Schächten spiegele den Wunsch des Unionsgesetzgebers wider, das Recht, seine Religion oder Weltanschauung durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen, zu respektieren, und dies trotz des »vermeidbaren Leidens, das Tieren im Zusammenhang mit der rituellen Schlachtung ohne vorherige Betäubung zugefügt werde«, so Hogan in seiner Stellungnahme.
Dies sei »Ausdruck des Einsatzes der Union für eine tolerante, pluralistische Gesellschaft, in der es unterschiedliche und bisweilen gegensätzliche Ansichten und Überzeugungen« gebe, schrieb der Generalanwalt.
Diese Ausnahmeregelung muss nach Auffassung des Generalanwalts aber eng ausgelegt werden. Dies sei notwendig, um Tiere zum Zeitpunkt der Tötung so weit wie möglich zu schützen. Die EU-Mitgliedstaaten seien aber auch dem Tierschutz verpflichtet. Insbesondere, so Hogan in seinem Rechtsgutachten, würde eine Situation, in der koschere und Halal-Fleischerzeugnisse ohne Kennzeichnung in die allgemeine Lebensmittelkette gelangten, nicht den gesetzgeberischen Vorgaben entsprechen.
AUSHEBELUNG Diese Einschränkung im Interesse des Tierschutzes dürfe jedoch nicht zu einer De-Facto-Aushebelung der Praxis der rituellen Schlachtung durch die Mitgliedstaaten dienen. Der Erlass strengerer nationaler Vorschriften sei nur erlaubt, wenn der »Kern« der religiösen Praxis nicht beeinträchtigt werde. Der Europäische Gerichtshof dürfe nicht zulassen, dass diese Entscheidung des EU-Gesetzgebers von einzelnen Mitgliedstaaten im Namen des Tierschutzes inhaltlich entwertet werde, schrieb Hogan.
In der Regel folgen die Luxemburger EU-Richter den Empfehlungen der Generalanwälte, auch wenn sie an die Rechtsgutachten nicht gebunden sind.
REAKTIONEN Vertreter jüdischer Verbände zeigten sich erfreut über die Stellungnahme Hogans. »Das ist ein guter Tag für die Religionsfreiheit in Europa,« erklärte der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt. Damit unterstreiche Hogan den hohen Stellenwert der Religionsfreiheit in der EU-Grundrechtecharta.
»Religiöses Schlachten ist in der gesamten EU bereits stark reguliert und setzt grundsätzlich die Berücksichtigung des Tierwohls voraus. Dies wird auch durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse gestützt,« fügte Goldschmidt an. Er hoffe, dass die Richter des Europäische Gerichtshofs dem Gutachten des Generalanwalts folgen und damit einen Schlussstrich unter Versuche einzelner Mitgliedsstaaten ziehen würden, »religiösen Minderheiten in Europa das Leben schwer zu machen.«
Auch der Vorsitzende des Dachverbands jüdischer Organisationen in Belgien, Yohan Benizri, sprach von einem wegweisenden Gutachten. »Die Europäische Union, die uns sehr am Herzen liegt, darf es nicht zulassen, dass die Religionsfreiheit vollständig untergraben wird. Die Stärke einer Demokratie wird in erster Linie daran gemessen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Niemand kann die Integration unserer Gemeinschaft in Europa in Frage stellen. Ich hoffe, dass der Gerichtshof ebenfalls unserer Argumentation folgen wird.«
»MIT ALLEN MITTELN« Der zuständige flämische Minister Ben Weyts von der nationalistischen N-VA, die das Totalverbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung vorangetrieben hatte, zeigte sich dagegen überrascht und enttäuscht. »Ich bin da völlig anderer Meinung,« erklärte er.
Die Stellungnahme des Generalanwalts bedeute aber noch kein endgültiges Urteil des Europäischen Gerichtshofs, so Weyts. »Dies ist noch lange nicht das Ende des Verfahrens. Der Europäische Gerichtshof selbst hat noch nicht gesprochen, genausowenig wie der Verfassungsgerichtshof in Belgien.« Als flämischer Tierminister werde er alles tun, um unser Schlachtverbot ohne Betäubung durchzusetzen. Wörtlich fügte er an: »Mit allen Mitteln. Wir werden nicht nachgeben.«
Indirekt kritisierte der Politiker sogar die Justiz. Er würde es als irritierend empfinden, wenn diese demokratische Entscheidung vor Gericht aufgehoben würde. »Wir leben in einem demokratischen Verfassungsstaat, und diese Worte sind in der richtigen Reihenfolge: Die Demokratie steht an erster Stelle,« schrieb Weyts auf Twitter.