Belgien

Gottvertrauen und Polizeischutz

Tausend Euro zahlen jüdische Eltern in Antwerpen jährlich für die Sicherheit ihres Kindes. Foto: Alexander Stein

Das Leben ist wieder wie vorher. Zumindest die tägliche Routine des Fußwegs von zu Hause zur Synagoge der Belzer Gemeinde. Den legt der junge Mann nun wieder zurück wie vor diesem 15. November, als er auf dem Weg zum Morgengottesdienst auf offener Straße mit einem Messer angegriffen wurde und Verletzungen am Hals erlitt. Noch etwas mitgenommen sei er, sagt sein Schwager David Damen, aber es hätte schlimmer kommen können.

David Damen gehört, ebenso wie das Opfer des Angriffs, zur chassidischen Belzer Gemeinschaft von Antwerpen. Deren Mitglieder, sagt er, hätten den Angriff schnell vergessen, da die Verletzung seines Schwagers nicht ernsthaft gewesen sei. Besonders gefährdet sähen sich die Belzer nicht. Ebenso wenig schätzten sie die Attacke als speziell auf ihre Gemeinde gerichtet ein. »Der Täter hatte es auf Juden abgesehen. Und für ihn sieht ein Jude wie der andere aus.«

alkohol
Jacob Berger, Rabbiner der orthodoxen Gemeinde Shomre Hadas, bewertet die Lage ähnlich: »Bei uns hat sich nichts verändert. Das Leben bleibt das Gleiche.« In seiner Gemeinde sehe man den Angriff als »Unfall«. Dazu trägt vor allem ein Detail bei: »Es ist beruhigend, dass der Täter kein Muslim war. Das bedeutet, dass die Sache wahrscheinlich keine Methode hatte.« Wie viele im jüdischen Viertel um den Bahnhof herum geht auch Berger davon aus, dass der Täter eher ein Osteuropäer war – möglicherweise stand er unter Alkoholeinfluss.

Das Opfer selbst hatte am Tatort einem Notfallsanitäter vom »europäischen Aussehen« des Täters berichtet. Festgenommen wurde auch nach mehr als zwei Wochen noch niemand. »Aber die Ermittlungen sind in vollem Gang«, sagt Ken Witpas, Sprecher der Staatsanwaltschaft Antwerpen. Über einen antisemitischen Hintergrund will er zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts sagen. »Das ist zu früh. Erst wenn ein Verdächtiger festgenommen ist, können wir uns zu den Motiven äußern.« Bis dahin gilt Antisemitismus als ein möglicher Hintergrund.

Darauf lässt im Übrigen nicht nur der Tathergang schließen. In der Zwischenzeit gab es bereits zwei weitere antisemitische Vorfälle im Viertel, bei denen Juden beschimpft wurden, berichtet Rabbiner Aaron Malinsky, Dozent an der Universität Antwerpen.

Er hat davon in der Synagoge gehört und weiß, dass jüdische Passanten gerade in der Nähe des Tatorts an der Eisenbahnbrücke schon mehrfach angepöbelt wurden. »Die Gegend um das jüdische Viertel ist auch eine osteuropäische Enklave«, so Malinsky. »Die meisten Menschen dort sind anständig, aber es kommt vor, dass Betrunkene Juden belästigen.« Neu sei jedoch, dass dies »am helllichten Tag passiert«.

Sicherheit Nach wie vor gelten im Viertel verschärfte Sicherheitsmaßnahmen. Allerdings sind sie nicht so hoch wie nach dem Attentat im Brüsseler Jüdischen Museum vor einem halben Jahr. »Hier in Antwerpen ist es nur ein zusätzlicher Bewacher pro Schule«, sagt Malinsky.

Dennoch sind die jüdischen Bewohner des Viertels ständig mit der eigenen Gefährdung konfrontiert. Etwa, wenn eine Schulklasse das renommierte MAS (Museum aan de Stroom) besucht, wo zurzeit eine Ausstellung über Religionen gezeigt wird. »Unsere Schülergruppen werden dort besonders bewacht.«

Vor diesem Hintergrund erschien vergangene Woche in der israelischen Tageszeitung Haaretz ein Artikel über ein starkes Interesse belgischer Juden, nach Israel auszuwandern. Als Gradmesser gilt eine gut besuchte Alija-Messe. Aaron Malinsky sagt, in seinem engeren Umfeld seien schon »mindestens 20 oder 30 Familien« gegangen. »Das ist eine spektakuläre Zahl. Und der Faktor, der sie in die Höhe treibt, ist der Antisemitismus – das hat nichts mit wirtschaftlichen Gründen zu tun.«

Unabhängig davon kann Malinsky, der als Guide auch Touren durch das jüdische Viertel organisiert, nicht erkennen, dass die Messerattacke vom 15. November zu einem wachsenden Interesse an der Alija geführt hätte. Die Messe, von der Haaretz berichtet, habe nicht nur vor dem Angriff stattgefunden, sondern auch in Brüssel, so Malinsky. »Die Antwerpener Juden sprechen in der Regel Hebräisch und haben Verwandte in Israel. Sie brauchen keine Alija-Messe.«

Ganz ähnlich sieht das Terry Davids, Redakteurin der in Antwerpen erscheinenden Wochenzeitung Joods Actueel. »Das Bild, das Haaretz vermittelt, stimmt so nicht. »Die Alija-Messe gibt es seit 15 Jahren. Und die Nachfrage ist nicht höher als früher«, betont die Journalistin. »Die Menschen sind auf der Hut, aber das Leben geht weiter.« Davids’ Schlussfolgerung klingt fast fatalistisch: »Ja, es ist schlimm, aber das ist die Situation. Es geht weiter, wie es in jeder jüdischen Gemeinde auf der Welt weitergeht.«

Kosten Derweil griff die Lokalzeitung Gazet van Antwerpen den Vorschlag des liberalen Politikers Claude Marinower auf, den Schutz jüdischer Einrichtungen mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Laut Marinower zahlt eine jüdische Familie pro Kind im Jahr fast 1000 Euro für die Sicherheit. »Marinower hat absolut recht«, kommentiert die Zeitung.

Der Politiker hatte zuletzt in Joods Actueel aufgerufen: »Lasst uns schnell beziffern, wie hoch der Preis dafür ist und wie das innerhalb des Etats getragen werden kann. Nach den jüngsten Anschlägen in unserem Land kommt das keinen Moment zu früh.«

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