Vor wenigen Wochen entschied der Oberste Gerichtshof der USA, dass kein Bundesstaat – und sei er noch so konservativ – das Recht habe, Schwulen und Lesben das Recht auf Eheschließung vorzuenthalten. Am Tag darauf schmückten Abertausende Amerikaner ihre Facebook-Seiten mit der Regenbogenflagge der Schwulenbewegung. Selbstverständlich waren unter denen, die sich da so öffentlich freuten, auch Juden.
Allerdings gibt es eine Gruppe jüdischer Amerikaner, die mit der Entscheidung des Obersten Gerichts enorme Schwierigkeiten hat: die Orthodoxen. Gemeint sind damit weniger die Ultrafrommen (die sich ohnehin gegenüber allem Fremden, Säkularen verschließen), sondern eher jene frommen Juden, die im Einklang sowohl mit der Tora als auch mit der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft leben wollen.
Die Orthodox Union (OU) etwa, die sich politisch ziemlich genau in der Mitte bewegt, gab ein gewundenes Statement heraus, in dem sie sich sowohl zur Halacha als auch zu den Werten der Demokratie bekennt. Danach kommt die OU zum brenzligen Hauptpunkt: »Wird das amerikanische Recht auch weiterhin Prinzipien der religiösen Freiheit und Vielfalt aufrechterhalten und verkörpern? Und werden die Gesetze, die den heutigen Urteilsspruch in Kraft setzen, auch die entsprechenden Ausnahmen für Personen enthalten, die sich an religiöse Traditionen gebunden fühlen, die ihrer Fähigkeit, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu unterstützen, Grenzen setzen?«
Angst Hinter dieser gewundenen Frage steckt eine Furcht. Diese Furcht bezieht sich auf einen Rechtsstreit, der auf den ersten Blick gar nichts mit der Schwulenbewegung und nichts mit Juden zu tun hat: 1983 verlor die Bob Jones University – eine kleine protestantische Privatuni in South Carolina – ihr Privileg der Steuerfreiheit, weil auf ihrem Campus keine geschlechtlichen Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen zugelassen waren.
Viele orthodoxe Juden fragen sich nun: Blüht uns das auch? Werden jüdische Schulen plötzlich Steuern zahlen müssen, wenn sie schwule Paare nicht anerkennen? Werden orthodoxe jüdische Gemeinden ihre Anerkennung verlieren, wenn deren Rabbi sich weigert, schwule Paare mit einer Ketuba auszustatten? Wird man Rabbiner wegen Diskriminierung belangen, wenn sie die traditionelle jüdische Haltung gegenüber der Homosexualität lehren?
»Wenn der Eindruck herrscht, dass religiöse Ansichten rassistisch sind, wenn sie verleumdet werden, wenn ihre Anhänger wie Staatsbürger zweiter Klasse betrachtet werden, wenn es diese Atmosphäre gibt, dann weiß niemand, welche Nachteile die Leute erleiden werden«, sagte Rabbi Abba Cohen von der Agudath Israel of America.
Empathie Allerdings teilen nicht alle orthodoxen Juden diese Furcht. Ephraim Epstein, Rabbiner der Gemeinschaft »Sons of Israel« in New Jersey, etwa meint, dass die rechtlichen Schwierigkeiten, die durch die Entscheidung des Obersten Gerichts entstanden seien, nicht unüberwindlich sind. »Die Vorschriften der Tora sind unveränderlich. Deshalb kann ein authentisches orthodoxes Judentum gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht sanktionieren«, sagte er. »Aber das orthodoxe Judentum steht auch für eine ungeheure Menge Empathie und Sensibilität, für ein Sorgen um die Nöte, Bedürfnisse und Gefühle eines jeden, ganz gleichgültig, wer er – oder sie – ist.«
Noch weiter als Ephraim Epstein gehen Shmuly Yanklowitz, ein orthodoxer Rabbiner aus Arizona, und Rabbi Ari Hart vom orthodoxen Hebrew Institute of Riverdale. Yanklowitz rief in einem Zeitungsartikel dazu auf, schwule Ehen anzuerkennen – dies verlange die fundamentale Gerechtigkeit. Natürlich könne er als orthodoxer Rabbiner ein schwules Paar nicht trauen. Aber das bedeute nicht, dass er der säkularen Gesellschaft vorschreiben wolle, sie hätte sich nach seinen jüdischen Regeln zu richten.
»Gräuel« In ein ähnliches Schofar stieß Rabbi Hart in einer Rede, die er am 4. Juli, dem US-Nationalfeiertag, in seiner Synagoge hielt. »Dasselbe biblische Wort, das die Tora verwendet, um gleichgeschlechtlichen Beischlaf zu verdammen – meistens mit »Gräuel« übersetzt –, verwendet sie auch für Krustentiere und für unehrliche Geschäftsbeziehungen«, sagte Hart. »Heißt das, dass wir künftig vor jedem Restaurant demonstrieren, in dem es Hummer gibt?«
Er ging dann auch noch näher auf eine Talmudstelle ein, in der es den nichtjüdischen Völkern als Mizwa angerechnet werde, dass sie für gleichgeschlechtliche Ehen keine Ketuba ausstellen. Mit den Augen des mittelalterlichen Torakommentators Raschi gelesen, werde klar, stellte Hart fest, dass es hier nicht um homosexuelle Ehen gehe, sondern um sexuellen Missbrauch.
»Scheintherapie« Der Rabbi sagte auch: Die orthodoxe Gemeinschaft habe sich gegen Schwule und Lesben versündigt, indem sie sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und zum Teil zu betrügerischen Scheintherapien gezwungen habe, mit denen sie zur Heterosexualität erzogen werden sollten. Das orthodoxe Judentum schulde den Schwulen und Lesben einen Akt der Teschuwa. Hart schloss seine Rede mit dem Ausruf: »God bless America!«
Dass viele orthodoxe Juden Probleme mit dem schwulen- und lesbenfreundlichen Urteil des Obersten Gerichts haben, überrascht nicht. Dieselben Probleme haben auch Katholiken, konservative Protestanten und die Mormonen. Überraschend ist allerdings, dass es innerhalb der Orthodoxie dann eben auch Rabbiner wie Yanklowitz und Hart gibt, die fest auf dem Boden der Tora stehen und gleichzeitig mit erhobenem Arm die Regenbogenflagge schwenken.
Und wie wurde Rabbi Harts Rede in Riverdale aufgenommen? Saßen die Beter hinterher wie vom Donner gerührt da und schauten betreten auf ihre Fingernägel? Nein, es gab tosenden Applaus – und Ari Hart wurde von vielen Gemeindemitgliedern herzlich in den Arm genommen.