Kino

Girl in Pink

Manche sehen rot angesichts von so viel Pink! »Barbie« gibt es jetzt im Kino. Und die blonde, blauäugige Ikone ist eine sehr jüdische Angelegenheit. Bevor wir über diese Puppe sprechen, die seit fast 65 Jahren die Menschen mal mehr und mal weniger aufregt, soll es um einen Kreis gehen, der sich gerade schließt, wenn nun der erste offizielle »Barbie«-Film ins Kino kommt.

Alles beginnt mit Ruth Handler, einer jungen Frau, in der sich Pragmatismus, Eigensinn und Stärke aufs Wunderbarste vereinen. Ruths Eltern waren orthodoxe Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Polen in die USA geflohen waren, wo Ruth 1916 in Denver als jüngstes von zehn Kindern zur Welt kam.

LEGENDE Als sie klein war – so will es die Legende –, spielte sie nicht mit Puppen, sondern half lieber im Geschäft ihrer ältesten Schwester. Mit 16 lernte sie bei einem Bʼnai-Bʼrith-Tanzabend Elliot Handler kennen und lieben, einen mittellosen Künstler, der den Eltern so gar nicht passte.
Das war Ruth aber herzlich egal. Mit 19 schmiss sie das Studium und ging nach Hollywood, wo sie als Sekretärin bei Paramount anheuerte. Elliot folgte ihr, und sie heirateten, sobald Ruth 21 war. Aus dem mittellosen Künstler wurde ein innovativer Designer, der den Siegeszug des Plastiks für seine Karriere nutzte und schließlich 1945 in seiner Garage mit seinem Freund Harold Matson die Firma Mattel gründete.

Zwar kombiniert der Titel die Namen der Männer, Mat-son und El-liot, doch dass aus Mattel ein Spielzeug-Imperium wurde, ist Ruth zu verdanken. Die erblühte als hochtalentierte Geschäftsfrau, und das in einer Zeit, als ihre Geschlechtsgenossinnen meist zu Hause blieben. »Ich dachte immer, ich sei ein Zufall, weil niemand sonst so war wie ich«, sagte Ruth Handler 1994 in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CBS.

1946 verkaufte Matson seine Anteile an Ruth, und sie wurde Firmenchefin. »Ich habe meine Kinder geliebt, aber ich war nicht dafür gemacht, Hausfrau zu sein.«

KUNDINNEN Der Tag, der die Spielzeug-Welt für immer verändern sollte, bahnte sich an, als Ruth ihrer Tochter Barbara dabei zusah, wie sie im Spiel mit Papierfiguren die Erwachsenen-Welt nachstellte. Da sei ihr zum ersten Mal aufgefallen, dass die Spielzeugindustrie ihren jüngsten Kundinnen als Puppen ausschließlich Babys anbot. Als Training für das, was zu kommen hat, sozusagen. Dabei wollten die Mädchen nicht die Mütter der Puppen sein, sondern die Puppen selbst, so die Erkenntnis.

Bald darauf, während eines Urlaubs in der Schweiz, entdeckte Ruth eine Lil­lie-Puppe, damals als sexy Spielerei für Testos­teron-gesteuerte Leser der »Bild«-Zeitung gedacht, in der täglich ein Lillie-Cartoon über eine junge, kesse, promiske Frau der Wirtschaftswunderzeit erschien.

Ruth Handler sah ihrer Tochter Barbara dabei zu, wie sie die Erwachsenen-Welt nachstellte.

Ruth sah etwas anderes darin und nahm dieses übertrieben lang gezogene Marilyn-Monroe-Pin-up mit nach Hause. Sie beschloss, eine eigene Puppe zu entwickeln, eine für kleine Mädchen, die damit ihre Fantasien über das Erwachsenenleben spielen können. »Und die erwachsenen Frauen, die sie sahen, hatten nun mal Brüste«, sagte Ruth über Barbies viel diskutierte Oberweite.

Um ganz sicherzugehen, dass sie richtiglag, beauftragte Ruth einen Marketing-Psychologen (ein ganz neuer Job damals) mit einer Marktanalyse. 45 Mütter und 191 Töchter durften Barbie in Augenschein nehmen, berichtet unter anderem der »Business Insider«, und siehe da: Die Mütter fanden die Puppe unangemessen, die Töchter waren schockverliebt.

Und so wurde am 9. März 1959 – das Jahr, in dem in den USA die Antibabypille erstmals getestet wurde, Russland und die USA um die Vormacht im All kämpften, Kuba kommunistisch wurde, Gigi den Oscar gewann und Miles Davis »Kind of Blue« veröffentlichte – Barbie geboren, im schwarz-weiß gestreiften Badeanzug und mit Absatzschuhen, benannt nach Ruths Inspiration: Tochter Barbara.

PLASTIK Die Zielgruppe riss sich um die 29 Zentimeter Plastik, und Mattel wuchs stetig. Im ersten Jahr verkaufte sich Barbie 350.000-mal, schreibt die Jewish Telegraphic Agency. Bis Mitte der 90er sollen es weltweit 800 Millionen gewesen sein. Heute verdient Mattel 1,5 Milliarden Dollar per annum, und Barbie ist die meistverkaufte Modepuppe der Welt.
Ruth Handler hat eigenhändig eine globale Marke geschaffen. »Ich weiß nicht, was mich damals angetrieben hat, aber ich habe mich immer beweisen müssen, seit dem Tag meiner Geburt«, antwortete sie im CBS-Interview auf die Frage nach ihrer Motivation.

Mehr als ein Jahrzehnt lang ging es für Mattel nur bergauf. Bis Anfang der 70er-Jahre Unregelmäßigkeiten in den Firmen-Finanzen zu einem Gerichtsprozess führten. Ruth verließ das Unternehmen 1975 und sah ihre Schuld nur darin, die Verantwortlichen im Unternehmen nicht gefeuert zu haben. Auch Barbie musste um ihren guten Ruf kämpfen: Der Feminismus hatte die blonde Sexbombe als perfektes Feindbild entdeckt. Bis heute wird der Puppe vorgeworfen, Mädchen auf körperliche Anforderungen zu dressieren. In den 70ern war »Ich bin keine Barbie!« ein feministischer Schlachtruf auf Amerikas Straßen. »Sie war alles, was wir nicht sein wollten«, sagte die US-Frauenrechtlerin Gloria Steinem.

»Viele Frauen haben Probleme mit ihren Körpern, ich glaube nicht, dass eine Puppe dafür verantwortlich zu machen ist«, so Ruths Kommentar. »Ich wollte die Welt nicht ändern, sondern zeigen, wie sie ist.«
Tatsächlich scheint Barbie die perfekte Projektionsfläche für jede und jeden zu sein, und das in absoluter Widersprüchlichkeit: das Lustobjekt für den männlichen Blick, der Befreiungsschlag für kleine Mädchen, die gern groß wären, die Rebellin, die unabhängig ohne Mann und Kinder ihr Leben lebt, eine Ikone des amerikanischen Traums und ein Hassobjekt für Feministinnen.

Und sie alle haben irgendwie auch recht. Zwar durfte Astronauten-Barbie schon vier Jahre vor Neil Armstrong ins All fliegen, und Präsidenten-Barbie war 1992 bereits da angekommen, wo in den Vereinigten Staaten bisher keine Frau hindurfte, aber es gab auch Pyjama-Party-Barbie mit Waage im Karton und einer Diät-Anleitung mit der Aufschrift »Don’t eat!«. Und … die typische Barbie sieht eben aus, wie sie aussieht.

Die Mütter fanden die Puppe unangemessen, die Töchter waren schockverliebt.

Abseits aller Ideologie war Barbie aber immer vor allem auch eines: eine Geldmaschine. Auftritt Ynon Kreiz, Chef und Retter von Mattel seit 2018. Und hier schließt sich besagter Kreis (no pun intended), denn Ruth Handler hätte die Geschäftstüchtigkeit des Israelis mit Sicherheit geliebt.

Kreiz ist neu im Spielzeug-Geschäft, er kommt vom Fernsehen, hat unter anderem Fox Kids Europe aufgezogen und für Endemol gearbeitet. Und Kreiz weiß, dass im Jahr 2023 die neue Währung geistiges Eigentum heißt, die sogenannte I.P. (intellectual property). In Barbies Fall heißt das eine pop-kulturelle Ikone, die jedes Kind auf der Welt kennt. Also reines Gold.

INSPIRATION Unfassbar, aber bisher gab es Barbie nicht im Kino. (Nein, Legally Blond mit Reese Witherspoon sah nur so aus, und Barbies Auftritt in Toy Story war eine Ausnahme.) Die Rechte lagen lange bei Universal und Sony, die eine Satire planten, mal mit Anne Hathaway, dann mit Amy Schumer. Nichts für Kreiz, denn dem war klar, dass Mattels beste IP wertlos würde, wenn man sie nicht ernst nimmt.

»Barbie ist Vorbild und Inspiration – nichts, woraus man eine Parodie machen sollte«, zitiert ihn der »New Yorker«. Keine zwei Monate, nachdem Kreiz Mattels Leitung übernommen hatte, hatte er die Rechte zurückgeholt und sich mit Hollywoodstar Margot Robbie verabredet, die schon länger Interesse an einer Barbie-Verfilmung bekundet hatte.

Robbie wiederum holte mit Regisseurin Greta Gerwig (Lady Bird, Little Women) etwas an Bord, das Barbie im Jahr 2023 ganz dringend braucht: Authentizität, selbst wenn diese so künstlich ist wie das schreiende Barbie-Pink, Pantone 219 C übrigens. Gerwig brachte Glaubwürdigkeit und Feminismus, und als Bonus gab es das Independent-Kino-Gefühl dazu, wirklich das Letzte, was einem bei Barbie einfällt.

Die verrückte Wahrheit ist, dass es funktioniert! Dieser Film ist, wie Barbie selbst, alles gleichzeitig und in einem: Liebeserklärung und Abrechnung, gigantisches Product-Placement und solides Drama, ganz groß und ganz klein.

Margot Robbie als Barbie und Ryan Gosling als Ken spielen sich in ungeahnte Höhen, denn auch sie nehmen Barbie so ernst, wie Mattel-Chef Kreiz es tut. Und der hat nicht einmal ein Problem damit, dass die Mattel-Führungsriege nicht besonders gut wegkommt. Bis auf Ruth Handler, die ihren eigenen großen Auftritt bekommt in dieser herrlich-bunten Coming-of-woman-Geschichte.

Aber was wurde eigentlich aus der realen Ruth nach Mattel? Die hat sich neu erfunden. Und das in großer Not. Nach einer Brustkrebsdiagnose wurden ihr nacheinander beide Brüste amputiert. Die Prothesen, die Anfang der 70er auf dem Markt waren, »waren offensichtlich von Männern entworfen, die die verdammten Dinger ja nicht tragen müssen«, fand Ruth. Und so gründete sie eine eigene Prothesen-Linie aus Silikon und schuf damit ein weiteres Millionen-Dollar-Unternehmen, das sie 15 Jahre lang geleitet hat.

Ruth Handler starb 2002, sie wurde 85 Jahre alt. Ihr ganzes volles Leben zu erinnern, ist ein Segen. Und der Barbie-Film ein guter Anfang.

Ab 20. Juli läuft »Barbie« im Kino.

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