Frankreich

Giftige Gerüchte

Marais: Trotz Terrorgefahr geht das Leben im jüdischen Viertel von Paris weiter. Foto: dpa

Die Juden sind schuld, die Juden waren vorgewarnt. Man kennt solche Verschwörungstheorien zur Genüge, erstmals waren sie nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 im Umlauf. Ein Fernsehsender der libanesischen Hisbollah behauptete damals, 4000 jüdische Angestellte seien am Morgen der Anschläge nicht zur Arbeit erschienen.

Auch die jüngsten Terrorattacken von Paris lassen die Serie giftiger Gerüchte dieser Art nicht abreißen. Am Montag nach den Anschlägen mit mindestens 130 Toten und mehr als 350 Verletzten ging auf Mailinglisten eine Nachricht um, die ursprünglich von dem französischen Komplott-Ideologen Thierry Meyssan stammt. Seine neueste Verschwörungstheorie geht so: »Die jüdische Gemeinschaft war vor den Attentaten vorgewarnt.« Meyssan bezieht sich auf ein Interview, das der französisch-israelische Publizist Jonathan-Simon Sellem einige Stunden vor den Attentaten gegeben hat. Darin spricht er von Vorwarnungen an die französischen Juden vor Anschlägen, die es für den laufenden Tag gegeben habe.

Dass etwas in der Luft lag, darüber waren die Ermittlungsbehörden aller Wahrscheinlichkeit nach informiert. Und da es islamistische Terroristen in letzter Zeit mehrmals auf jüdische Ziele abgesehen hatten, wurde der jüdischen Gemeinde in Paris offenbar geraten, besonders wachsam zu sein. Doch Antisemiten wie Alain Soral kolportieren das Gerücht, die Juden hätten von den Terroranschlägen gewusst und sich in Sicherheit gebracht.

Polizeischutz Dieses Klima löst Unbehagen in der jüdischen Gemeinschaft aus, die sich von dem Anschlag auf den Supermarkt Hyper Cacher an der Pariser Porte de Vincennes, bei dem im Januar vier Menschen ums Leben kamen, noch lange nicht erholt hat.

Nach dem Anschlag standen Gemeindeeinrichtungen monatelang unter erhöhtem Polizeischutz. Die Sicherheitsvorkehrungen waren notwendig, doch empfanden es viele als ein zweischneidiges Schwert. Denn die starke Polizeipräsenz machte jüdische Orte für Außenstehende plötzlich sichtbar. Manche Synagoge wie die in der Rue du Faubourg-Saint Martin am Pariser Ostbahnhof, ein koscheres Restaurant am Boulevard Voltaire oder die jüdische Schule in der Straßburger Avenue de la Forêt-Noire fielen erst dann als jüdische Orte auf, als rund um die Uhr bewaffnete Polizisten oder Militärjeeps davor standen.

Im vergangenen Sommer wurde die Armeepräsenz dann überall reduziert. Vor jüdischen Einrichtungen ersetzte man sie in der Regel durch eine diskretere Überwachung mit Kameras. Jetzt wird sie im ganzen Land wieder hochgefahren – doch nach den jüngsten Anschlägen nicht mehr so zielgerichtet vor jüdischen Einrichtungen. Die Präsenz von Polizei und Militär ist diffuser, breiter gestreut und konzentriert sich auf Bahnhöfe und öffentliche Plätze.

Auswanderung Viele Juden sind deshalb besorgt. Doch anders als im Januar fühlen sich die Gemeindemitglieder jetzt weniger direkt betroffen. In Privatgesprächen ist erheblich weniger von Auswanderung die Rede als zu Jahresbeginn.

Der Präsident der französisch-jüdischen Dachorganisation CRIF, Roger Cukierman, glaubt nicht, dass diesmal die jüdische Gemeinschaft als solche im Visier der Attentäter war. »Es ist die Jugend Frankreichs, die angegriffen wurde«, sagte er und kritisierte, dass muslimische Einrichtungen in Frankreich aus dem Ausland finanziert werden. Cukierman regt an, dass die öffentliche Hand die Imame bezahlen soll, auch wenn dies gegen das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat verstoße.

Viele Juden befürchten, dass infolge der Attentate die extreme Rechte Zulauf erhält. Aber nur wenige lassen sich von den Sirenenklängen von Front-National-Chefin Marine Le Pen bezirzen, die sich als »Schutzschild der jüdischen Gemeinschaft gegen die islamische Bedrohung« darstellt.

Trotz Terrorgefahr geht das Leben in Paris weiter, etwa bei Moïse, der mitten im maghrebinisch geprägten Einwandererviertel Barbès/La Goutte d’Or ein tunesisch-jüdisches Restaurant betreibt. Über die jüngsten Bluttaten möchte er nicht gern sprechen, aber er zeigt auf ein Plakat an der Wand, das an Ilan Halimi erinnert, ein anderes Gewaltopfer, das man nicht vergessen dürfe. Im Jahr 2006 ermordete ihn eine Bande von jungen Gewalttätern aus den sozialen Brennpunkten der Trabantenstädte nach dreiwöchiger Gefangenschaft. Für viele Juden markiert diese Tat den Beginn des Terrors.

Symbolträchtig Der Charakter der Attentate vom 13. November ist anders als der der Anschläge Anfang des Jahres. Jetzt wurden nicht gezielt jüdische Orte wie der koschere Supermarkt oder ein symbolträchtiger Ort wie eine antiklerikale Zeitung angegriffen, sondern es hätte, wie viele Juden in Paris sagen, »buchstäblich jeden« treffen können.

Gezielt auf einen Juden gerichtet war jedoch die Aggression gegen Tzion Saadon, einen Kippa tragenden Lehrer und Rabbiner, der am Mittwoch vergangener Woche in Marseille mit einem Messer angegriffen wurde. Die Täter, drei junge Islamisten, stachen zu, weil ihr Opfer jüdisch war. Sie zeigten dem 56-Jährigen auf ihrem Handy-Display Fotos von Mohamed Merah. Der Dschihadist hatte im März 2012 vor einer jüdischen Schule in Toulouse drei Schüler und einen Lehrer ermordet.

Einer der Angreifer von Marseille trug zudem ein T-Shirt mit einer Aufschrift, die den »Islamischen Staat« verherrlicht. Nach den Tätern wird noch gefahndet. Jüdische Kollegen und Freunde besuchten den verletzten Lehrer in den vergangenen Tagen zu Hause.

Manche mag es sehr beruhigen: Auch eine Delegation muslimischer Vereine und Schulen schaute bei Tzion Saadon auf einen Krankenbesuch vorbei und verurteilte den Messerangriff energisch.

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