Jeder Jude hat das Recht, ins Land einzuwandern.» Dieser Satz ist seit dem 5. Juli 1950 Gesetz in Israel. Und er wird selbstverständlich genutzt – nicht nur in seiner eigentlichen Form, die im hebräischen Originaltext von der Alija, der Einwanderung, spricht. Israels Tore standen Juden stets offen, und es wurde davon Gebrauch gemacht.
Das ist vorbei. Seit Beginn der Corona-Pandemie schottet sich das Land nun bereits zum zweiten Mal ab. Die «Lebensversicherung», als die viele Juden Israels offene Pforten betrachten, stellt zurzeit keine Policen mehr aus.
ABSCHOTTUNG Seit Ende November riegelt sich Israel immer mehr ab. Menschen dürfen nicht mehr in die USA oder aus den USA in den jüdischen Staat reisen. Auch Italien, Großbritannien, Dänemark, Südafrika und etliche afrikanische Staaten sind tabu. Die rasende Verbreitung der Virusvariante Omikron hat dazu geführt, dass das israelische Gesundheitsministerium am vergangenen Sonntag empfahl, auch die Türkei, Ungarn, Marokko, Portugal, Kanada, Belgien, Deutschland und die Schweiz mit bilateralen Einreisesperren zu belegen.
Die «Lebensversicherung», als die viele Israel empfinden, stellt zurzeit keine Policen mehr aus.
Dass damit praktisch alle Schwerpunktländer mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil (USA, Kanada, Belgien, Südafrika) mit einem Reisebann belegt sind, bedarf trotz der akuten pandemischen Notlage wortreicher Rechtfertigung.
Denn zu stark ist der Einschnitt für Juden aus aller Welt, dass aus Israels stets weit geöffneten Armen für Juden «aus dem Gollus», der Galut (Diaspora), plötzlich hermetische Abriegelung geworden ist.
VERANTWORTUNG «Es ist uns durchaus bewusst, wie schmerzhaft unsere Maßnahmen sind, und Sie haben mein Wort, dass wir alles daransetzen werden, dass Juden aus aller Welt Israel so bald wie möglich wieder besuchen können», schrieb Premierminister Naftali Bennett an die Leiter jüdischer Organisationen in den USA. Israel werde seine Grenzen «so bald wie möglich wieder öffnen», so Bennett weiter. «Meine Hauptverantwortung ist es aber, die Bürger des jüdischen Staates zu beschützen», schrieb Bennett.
«Wir haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht», so der Premierminister weiter. «Und natürlich ist uns klar, wie hart dies für die Menschen weltweit und speziell für die Juden sein muss», schreibt Bennett, der auch auf geplante «Familienbesuche, Barmizwa-Feiern und Eheschließungen» eingeht. Für derlei Familienfeste gibt es zwar Ausnahmeregelungen. Sie sind aber dermaßen restriktiv, dass sie eine Einreise (und Ausreisen für Israelis) zu einer extrem beschwerlichen Angelegenheit machen.
Sinn und Zweck dieser für viele Juden rüde anmutenden Maßnahmen ist es, Zeit zu gewinnen. «Wir haben uns mit diesen Maßnahmen Zeit gekauft – einen Zeitraum von etwa drei Wochen», sagten am Montag bei einer Videopressekonferenz der Europe Israel Press Association (EIPA) Israels Chief COVID-19 Officer, der «Corona-Zar» Professor Salman Zarka, und Professor Ran Balicer, der Vorsitzende des Israel’s National Experts Panel on COVID-19.
impfunwillige Diese Zeit wolle man nutzen, um impfskeptische Gruppen zu überzeugen. Flughäfen zu, auf Impfunwillige zugehen und so Corona besiegen – dass es so einfach nicht getan ist mit der Bekämpfung einer weltweiten Seuche wissen die Israelis genauso gut wie Juden in der Diaspora.
Alle sind sich darüber im Klaren, dass nicht nur Juden aus der Diaspora Israel brauchen, sondern Israel auch die Diaspora. Das gilt für Privates wie für Wirtschaft, für Kunst und Kultur – und zuvörderst natürlich für die Politik. Amerikas Juden, speziell die Anhänger der Demokraten, die ohnehin schon zunehmend mit Israel fremdeln, sind von entscheidender Bedeutung, was die Stimmungslage im Land zu dem höchst umstrittenen Atomabkommen mit dem Iran anbelangt, dem die Regierung von US-Präsident Joe Biden wieder beitreten möchte.
«Sehr bald, meine Freunde, werden wir euch brauchen», sagte Israels Diaspora-Minister Nachman Shai kürzlich dem gespannt lauschenden Publikum in der New Yorker Park Avenue Synagogue. Während der Diskussion um die «Schaffung neuer Paradigmen für Amerikas Juden und Israel» betonte Shai, es zeichne sich eine Krise zwischen beiden Regierungen in dieser Frage ab. Vermutlich deshalb fragte der Gemeinderabbiner bei Shai auch dezidiert nach «der Rolle, die Amerikas Juden bei der Gestaltung von Politik gegen die Regierungslinie» in Sachen Iran einnehmen würden. «Sie waren in solchen Situationen immer da, wenn es darum ging, Israel zu verteidigen», erwiderte Shai. Ob das auch weiterhin so bleibt, scheint zumindest in dieser zentralen Frage derzeit völlig offen.
TAGLIT Geschlossene Grenzen jedenfalls sind kein guter Nährboden für einen Diskurs. Wohl auch deshalb kann die Bildungseinrichtung «Taglit – Birthright Israel» seit dem 19. Dezember wieder Reisen von den USA nach Israel aufnehmen. Das berichtet der «Jewish Insider».
«Sehr bald, meine Freunde, werden wir euch brauchen.»
Israels Diaspora-Minister Nachman Shai
Die Teilnehmer müssen dennoch den allgemeinen, für Israelis geltenden Vorschriften folgen, also eine komplette Impfung oder einen Booster in den vergangenen sechs Monaten nachweisen. Darüber hinaus müssen sich sämtliche Einreisenden zunächst einer dreitägigen Quarantäne unterziehen und im Anschluss daran noch einen Corona-Test machen lassen.
Mit diesen Sonderregeln schöpft «Birthright Israel» ein Privileg aus. Die Bildungseinrichtung, die kostenlose, zehntägige Reisen für Jugendliche nach Israel organisiert, hat den Staat Israel als Sponsor. Nun liegt es ausgerechnet an den jungen jüdischen Erstbesucherinnen und -besuchern, ihr gesetzlich verbrieftes «Geburtsrecht» wieder wahrzunehmen.
Für alle anderen bleiben Israels Grenzen bis auf Weiteres geschlossen. Doch trotz der empfundenen Zurückweisung hoffen in der Diaspora viele, dass Israel mit dieser radikalen Maßnahme entscheidende Erfolge im Kampf gegen Omikron gelingen werden.