Zwischen Brüssel und Antwerpen liegen Welten. Ehepartner, die in den 40 Kilometer voneinander entfernt gelegenen Städten aufgewachsen sind, nennen ihre Beziehung »Mischehe«. Linda Levy stammt aus Antwerpen, der Hauptstadt von Flandern. Ihr Mann Bernard ist ein Frankophoner aus der Wallonie.
Mit ihren drei Kindern leben sie in der Nähe von Brüssel – der Hauptstadt eines Landes, in dem das langjährige Experiment, zwei Kulturen miteinander verschmelzen zu wollen, seit Langem deutliche Zeichen des Scheiterns aufweist. Während sich die Feindschaft zwischen dem flämischsprachigen und dem frankophonen Teil weiter vertieft, leben auch die jeweiligen jüdischen Gemeinden Belgiens nicht mehr einträchtig miteinander.
In letzter Zeit sind eine Reihe von tiefen ideologischen Unterschieden zwischen der flämisch- und der französischsprachigen jüdischen Gemeinde ans Tageslicht gekommen. Manche sagen, ein Auslöser dafür sei die Entscheidung Belgiens gewesen, es Österreich gleichzutun und – als einzige EU-Mitgliedsländer – für eine UN-Untersuchung der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland zu stimmen.
votum Lange Zeit herrschte zwischen der flämischen und der französischsprachigen jüdischen Gemeinde ein Modus Vivendi, der eine Zusammenarbeit ermöglichte. So traten sie gegenüber bundesstaatlichen Behörden gemeinsam auf. Doch über das Votum zur UN-Untersuchung kam es zum Bruch zwischen den beiden Gemeinden. Die flämischen Juden, vertreten durch das Forum der Jüdischen Organisationen (FJO), trafen sich mit dem belgischen Justizminister und gaben eine Erklärung ab, in der es hieß, die jüdische Gemeinde sei »schockiert und entsetzt« über das Votum.
Die französischsprachigen Juden, vertreten durch die Dachorganisation jüdischer Institutionen in Belgien (CCOJB), verurteilten das Votum der belgischen Regierung nicht offiziell. Stattdessen traf sich der CCOJB-Präsident Maurice Sosnowski mit einem hohen Regierungsbeamten, um eine Erklärung für das Votum zu fordern. Der Beamte kam zu dem Schluss, die Beziehungen zwischen Israel und Belgien seien »freundlich und offen«. Wie das CCOJB seinen Mitgliedern in einer Stellungnahme mitteilte, bedauerte das Außenministerium »bestimmte Missverständnisse«.
JCall »Das Treffen im Außenministerium wäre sicherlich ganz anders verlaufen, wären wir eingeladen worden«, sagt Eli Ringer, Ehrenvorsitzender des FJO, das seinen Sitz in Antwerpen hat. Er merkt an, dass das CCOJB, die frankophone Dachorganisation, vor Kurzem ein Mitglied von JCall in den Vorstand berufen habe. JCall ist eine linke jüdische Gruppe, die sich selbst als proisraelisch bezeichnet, aber der Politik der israelischen Regierung kritisch gegenübersteht.
Die Auseinandersetzung um das belgische UN-Votum war nicht der erste Streit zwischen den beiden jüdischen Gemeinden. Im Dezember hatte Ringer das CCOJB kritisiert, weil es zu einer Festveranstaltung einen belgischen Politiker als Ehrengast eingeladen hatte, der Israel mit dem Nationalsozialismus verglichen hatte. Ringer nannte die Einladung »unklug«.
In den Worten von Joel Rubinfeld, dem ehemaligen Präsidenten des CCOJB, haben die zwei Organisationen einen Punkt erreicht, an dem das Zerwürfnis zwischen ihnen nicht mehr zu überdecken ist. Die Beziehungen zwischen den beiden Gruppierungen »waren nie schlechter als jetzt«, sagte er.
gegensatz Die Unterschiede zwischen den Antwerpener und den Brüsseler Juden bestehen seit Langem. Die Antwerpener sind religiöser; sie leben in enger Gemeinschaft und sind Falken in Bezug auf Israel. Ihre Glaubensgenossen in Brüssel hingegen sind liberaler, so die übereinstimmende Meinung von Laien und religiösen Führern beider jüdischen Gemeinden. Antwerpen hat 13 jüdische Schulen, Brüssel nur drei.
Der Vater von Linda Levy, ein Diamantenhändler, ist einer von ungefähr 18.000 Juden, die in Flandern leben. Die meisten flämischen Juden in Antwerpen sind orthodox und sprechen sowohl Flämisch und Jiddisch zu Hause als auch Französisch und Hebräisch. »Ich bin in einem überwiegend säkularen Haus aufgewachsen, aber meine Familie in Brüssel hält mich für eine religiöse Autorität, bloß weil ich aus Antwerpen komme und Schabbatkerzen anzünde«, so Levy.
Ihr Ehemann Bernard stammt aus der Brüsseler jüdischen Gemeinde, zu der etwa 20.000 Mitglieder gehören. Die meisten sind in der französischsprachigen Bundeshauptstadt und im Umland konzentriert, wo sie ein säkulares Leben führen. Der Bruch zwischen den jüdischen Gemeinden Belgiens spiegelt die größte nationale Sorge wider, die das Land zurzeit belastet: die in den vergangenen Jahren immer breiter werdende Kluft zwischen flämisch- und französischsprachigen Belgiern.
Ablösung Eine der ersten großen Spaltungen betraf die belgische sozialistische Partei 1978, zwei Jahre vor der Schaffung der Flämischen Region und dem Beginn des belgischen Föderalismus, als die Partei in zwei Teile zerbrach. Heute gibt es nicht nur zwei sozialistische Parteien, eine für die frankophonen und eine für die flämischen Belgier, sondern auch zwei christdemokratische Parteien, zwei liberale Parteien und sogar zwei grüne Parteien. Die abtrünnige Neue Flämische Allianz strebt die völlige Ablösung des flämischen Teils von Belgien an.
Die Tatsache, dass eine getrennte Institution entstand, die nur flämische Juden vertritt, war Teil desselben Prozesses. Bei seiner Gründung vor 50 Jahren vertrat das CCOJB sowohl die Juden Flanderns als auch die der Wallonie, der französischsprachigen Region des Landes.
1993 jedoch verließ die flämische Gemeinde die Organisation und gründete das FJO, da sich die Juden aus Antwerpen in der wichtigsten jüdischen Dachorganisation nie wirklich vertreten gefühlt hatten. Michael Freilich, Chefredakteur des führenden jüdischen Periodikums in Belgien, Joods Actueel, meint, die beiden jüdischen Gemeinden lebten in zwei verschiedenen politischen Universen.
realitäten Aufgrund des politischen Systems »darf man in Flandern nur für flämische und in Wallonien nur für französischsprachige Parteien stimmen, obwohl Parteien aus beiden Regionen in der Regierung sitzen«, sagt Freilich. »Das heißt, Politiker, die für die Wallonen von Bedeutung sind, sind den Flamen egal und umgekehrt. Es ist sehr schwierig, gemeinsame Lobbyarbeit zu leisten, wenn man in zwei verschiedenen, parallelen politischen Realitäten lebt.«
»Das Problem ist, dass es in Brüssel immer noch Leute gibt, die die Frankophonen als Elite betrachten und die Flamen als provinziell«, sagt Eli Ringer. Doch die Zukunft der Beziehungen sieht er optimistisch, jedenfalls was die belgischen Juden betrifft. »Wir sind eine kleine Gemeinde und müssen zusammenarbeiten.«
Auch das CCOJB betont, man müsse »ein Klima von Vertrauen und Partnerschaft wiederherstellen und in Schlüsselfragen wie dem Kampf gegen Antisemitismus und der Delegitimierung des Staates Israel mit einer Stimme sprechen«. So geschehen vor knapp zwei Wochen, als CCOJB-Präsident Maurice Sosnowski die Freie Universität Brüssel dafür kritisierte, dass sie sich an einem Boykott gegen Israel beteiligt.