Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, kam das überraschende Aus. Ausgerechnet seit diesem Tag ist die 2007 im Russischen Ethnografischen Museum in St. Petersburg eingerichtete Dauerausstellung über jüdisches Leben in Russland nicht mehr zugänglich. Dabei handelt es sich nicht um irgendein Museum, sondern um eines der ganz großen in der ehemaligen zaristischen Hauptstadt, direkt neben dem Russischen Museum gelegen.
Nur an diesem Ort hatte ein breites Publikum in St. Petersburg bislang die Möglichkeit, sich mit der Geschichte und Kultur jüdischer Menschen auf dem riesigen Gebiet des früheren russischen Imperiums vertraut zu machen. Zu Recht gibt es also in der jüdischen Gemeinschaft Klärungsbedarf, auch wenn der Vorfall darüber hinaus kaum Aufsehen erregte.
Die Museumsleitung beschwichtigte. Dem unabhängigen Telegram-Kanal Rotonda, der über politische Vorkommnisse in der nördlichen Metropole berichtet und dabei auch heikle Themen wie politische Verfolgung nicht ausspart, erklärte die Direktorin des Russischen Ethnografischen Museums in St. Petersburg, Julia Kupina, die Hintergründe der Ausstellungsschließung. »Es ist nicht die Rede davon, dass jüdische Sammlungen aus der Ausstellung entfernt werden«, sagte Kupina. »Es geht um eine Neuformatierung. Es wurden Meinungen geäußert, wonach es heutzutage angemessener sei, den Nordkaukasus, Noworossija und die Krim im Museum zu zeigen.«
Über mehrere Regionen verteilt
Auch zukünftig würden der Öffentlichkeit Exponate über jüdisches Leben präsentiert, versicherte sie. Einige davon sollen in die bestehende Ausstellung über Eurasien integriert werden. Einzelne Zeugnisse über jüdische Geschichte und Kultur würden nach Aussage der Museumsdirektorin über mehrere Regionen verteilt. Schließlich, so ihr Argument, lebten Juden und Jüdinnen auch nicht alle an einem Ort. Außerdem sei jede Dauerausstellung zeitlich begrenzt, da andernfalls die Gefahr bestehe, dass Materialien aus den Sammlungen, insbesondere Textilien, Schaden nehmen könnten. Was das Datum der Schließung angehe, empfahl Kupina, die Museumsabteilung für Öffentlichkeitsarbeit zu kontaktieren.
Auf Anfrage der von der Föderation jüdischer Gemeinden Russlands FEOR herausgegebenen Zeitschrift »Lechaim« hieß es in einer schriftlichen Antwort, das Museum verfüge nur über beschränkte Räumlichkeiten und Ressourcen, sei gleichzeitig jedoch dem kulturellen Erbe unzähliger Bevölkerungsgruppen Russlands und der angrenzenden Staaten verpflichtet. In Bezug auf das Datum, an dem der Zugang zum Ausstellungssaal gesperrt wurde, nannte die Abteilung einen simplen und unverfänglich klingenden Grund: Demontage- und Umbauarbeiten in den Ausstellungsräumen beginnen immer montags, wenn das Museum für den Besucherverkehr geschlossen bleibt. Tatsächlich fiel der 27. Januar in diesem Jahr auf einen Montag.
»Es wurden Meinungen geäußert, es sei angemessener, die Krim zu zeigen.«
Julia Kupina
Doch das Argument überzeugt nicht. Essenzieller sind die Konsequenzen der angedachten Umgestaltung im Einklang mit der derzeitigen politischen Konjunktur. Juden zählten im zaristischen Russland zum Ende des 19. Jahrhunderts zu den größten Bevölkerungsgruppen. Aufgrund diskriminierender gesetzlicher Beschränkungen auf bestimmte Siedlungsgebiete, die kaum Ausnahmen zuließen, wurde jüdisches Leben gezielt an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Eine regionale Aufteilung von Exponaten der jüdischen Sammlung reproduziert gewissermaßen diesen Ansatz, indem jüdisches Leben durch eine auf Zersplitterung angelegte museale Präsentation an Sichtbarkeit verliert.
Präsident Wladimir Putin hatte seinerzeit der israelischen Regierung versprochen, die Einrichtung eines jüdischen Museums in St. Petersburg zu forcieren. Zur Umsetzung dieser Idee kam es jedoch nur in Form jener Dauerausstellung. Das war noch lange vor der Eröffnung des Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz in Moskau, das im imposanten konstruktivistischen Gebäude eines ehemaligen Busdepots untergebracht ist.
Inhaltliche Neuausrichtung als politische Entscheidung
Walerij Dymschiz, Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Ethnograf und Anthropologe, legt im Gespräch mit der »Jüdischen Allgemeinen« Wert auf eine differenzierte Sicht auf die jüngsten Vorgänge. Zweifellos sei die inhaltliche Neuausrichtung eine politische Entscheidung. »Es geht aber nicht gezielt darum, jüdische Kultur unsichtbar zu machen«, so Dymschiz. Die Gründe sieht er woanders. Das Museum verfüge über eine umfangreiche Sammlung, aber der Platz sei begrenzt. »Die Einrichtung der jüdischen Ausstellung war auch eine politische Entscheidung und ging nicht auf die Initiative des Museums zurück«, gibt er zu bedenken.
In mancher Hinsicht entspräche die geschlossene Ausstellung zudem nicht dem Konzept des Ethnografischen Museums. Entweder würden dort einzelne größere Volksgruppen präsentiert, oder die Ausgestaltung erfolge nach einem territorialen Prinzip angeordnet, beispielsweise über die Völker des Nordens. In der jüdischen Ausstellung waren hingegen vier verschiedene Ethnien zusammengefasst – Aschkenasim, Bergjuden, georgische und bucharische Juden.
»Aus ethnografischer Sicht ist das völliger Nonsens, weil es sich um unterschiedliche Ethnien handelt«, so Dymschiz weiter. Sie zusammenzufassen, mache nur aus religiöser Perspektive Sinn, weil diese Gruppen der Judaismus eint, was in einem der beiden für jüdische Kultur vorgesehenen Säle dargestellt wurde. Diese Logik sei stimmig für ein Religionsmuseum, das es in St. Petersburg auch gibt. Im Ethnografischen Museum hingegen komme Religion nur ganz am Rande vor.
Keinen Zweifel hegt Dymschiz daran, dass sich durch die Einlagerung der Exponate aus der Dauerausstellung die Option eröffne, sie nun an anderen Orten zu zeigen. Beispielsweise im Zentrum für Toleranz, das über keine eigene Sammlung verfüge. »Es wäre zweifellos angebracht, ein Museum in St. Petersburg zu eröffnen«, konstatiert Dymschiz. Allein deshalb, weil dort im Jahr 1916 das allererste jüdische Museum in Russland eröffnet wurde, dessen Exponate später in den Fundus des Ethnografischen Museums einflossen. Aber das werde nicht passieren, da ist er sich absolut sicher. Dafür fehlten sowohl die Ressourcen als auch der politische Wille.