Belgien

»Gemeinsame Standpunkte«

Brüssels Oberrabbiner Albert Guigui Foto: Michael Thaidigsmann

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»Gemeinsame Standpunkte«

Oberrabbiner Albert Guigui über den jüdisch-christlichen Dialog und Religionsfreiheit

von Michael Thaidigsmann  05.12.2019 12:17 Uhr

Herr Oberrabbiner, wie steht es um die Beziehungen zwischen Juden und Christen in Belgien?
Wir haben ein sehr gutes, ja herzliches Verhältnis. Wir laden uns gegenseitig zu unseren Veranstaltungen ein. Wir erarbeiten gemeinsame Standpunkte. Es gibt zum Beispiel einen gemeinsamen Koordinierungsausschuss mit den Katholiken, den OCJB, der sich alle sechs Monate trifft.

Gibt es auch mit den protestantischen Kirchen in Belgien Anknüpfungspunkte?
Ja, wir haben ausgezeichnete Beziehungen. 2016 gab es ein Kolloquium in der Brüsseler Hauptsynagoge, bei der uns die Vereinigte Protestantische Kirche in Belgien für die antisemitischen Ausfälle Martin Luthers förmlich um Entschuldigung bat.

Über welche Themen sprechen Sie bei solchen Kolloquien?
Wir reden zum Beispiel über den Schutz der Familie und über ethische Fragen wie Euthanasie oder Abtreibung. Wir versuchen, gemeinsame Positionen zu erarbeiten, die mit unseren religiösen Grundwerten in Einklang stehen. Wir sprechen auch über Themen wie den Religions­unterricht an staatlichen Schulen, den viele Säkulare am liebsten abschaffen möchten. Es geht darum, dass wir gemeinsam den Platz, den Religion in unserer Gesellschaft einnimmt, verteidigen müssen.

Belgien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten von einem katholisch geprägten in ein säkulares Land gewandelt …
Die Laizisten möchten religiöse Fragen und Probleme komplett in den Bereich des Privaten verbannen. Wir sind aber der Meinung, dass es erlaubt sein muss, dass sich die Religionsgemeinschaften zu gesellschaftlichen Fragen äußern, dass wir unsere Grundprinzipien offen zeigen und dass wir einen Platz in der Zivilgesellschaft haben. Und natürlich geht es beim interreligiösen Dialog darum, gemeinsam Front zu machen gegen Einschränkungen unserer religiösen Freiheiten.

Sehen Sie die Religionsfreiheit in Gefahr?
Schauen Sie, vor einigen Jahren wollte Island die Brit Mila, die Beschneidung von Jungen, verbieten. Die Christen gehörten zu den Ersten, die sich dagegen aussprachen. Wir sind gemeinsam dort hingefahren und haben eine Konferenz veranstaltet, mit hohen Vertretern der Kirche auf europäischer Ebene, und ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass das schlussendlich ausschlaggebend war für die Rücknahme der isländischen Pläne.

Nun betrifft die religiöse Beschneidung die Kirchen ja nicht direkt, und es gibt ja auch Christen, die sich offen für ein Verbot aussprechen.
Ja, es gibt Einzelne. Aber die Haltung der Amtskirche ist eindeutig. Sie weiß, dass die Religionsfreiheit uneingeschränkt und für alle geschützt werden muss. Wenn die Brit Mila verboten wird, sind auf kurz oder lang auch andere Freiheiten in Gefahr. Das wissen auch die Kirchen.

In einigen Monaten wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Verbot des rituellen Schächtens erwartet. Was denken Sie, wie wird es ausgehen?
Das weiß man vorher nie. Eines aber ist klar: Sollte der Europäische Gerichtshof das Verbot der Schechita in Flandern und Wallonien bestätigen, dann würden auch in anderen Ländern Verbote kommen. Das bedeutete Lebensgefahr für die jüdischen Gemeinden in Europa.

Sprechen Sie mit den Kirchen auch über Israel und den Nahostkonflikt? Hierzu kommt ja häufig Kritik aus den Kirchen.
Wir versuchen, die internationalen und hochpolitischen Themen, soweit es geht, auszuklammern und uns auf unsere gesellschaftlichen Probleme vor Ort zu konzentrieren. Aber es gibt zum Beispiel bei den Evangelikalen eine fast grenzenlose Liebe zu Israel. Sie fahren häufig dorthin, pflanzen Bäume. Bei den Katholiken ist es etwas durchwachsener.

Die Geschichte des Christentums war ja jahrhundertelang von Antisemitismus geprägt. Wie gehen Sie damit um?
Antisemitismus ist im Grunde ein Angriff gegen die Religion an sich, denn er stellt sich gegen unsere gemeinsamen Grundwerte, gegen das Gebot der Nächstenliebe und den Schutz des Schwächeren. Papst Franziskus, wie auch sein Vorgänger, hat deutlich gemacht, dass es für einen Christen unerlässlich ist, das Judentum zu kennen. Er will den Dialog weiter vertiefen, und wir wollen das auch.

Mit dem Brüsseler Oberrabbiner sprach Michael Thaidigsmann.

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