Letzanim» (Clowns) steht an einer Tür im Kindergarten der Arlene-Fern-Schule in Buenos Aires. Dahinter spielen die Dreijährigen. An einem niedrigen Tisch hantieren ein paar Mädchen mit Plastiklöffeln und Schüsseln. Sie tun so, als würden sie einen Kuchen backen. Die kleine Anita strahlt, nur kann sie nicht so unbefangen schwatzen wie die anderen. «Mama», «Ja», «Nein» und ihr eigener Name sind Wörter, die sie über die Lippen bringt. Außerdem verständigt sie sich mit ausdrucksvollen Gesten. Anita ist fast sechs Jahre alt und hat erst vor wenigen Monaten laufen gelernt. Sie leidet an einer Erbkrankheit und den Folgen einer Plagiozephalie (Schädeldeformation).
Neben Anita sitzt Ariela Silberleib. Die junge blonde Frau ist Psychologin und seit einem Jahr Anitas Integrationslehrerin. «Die Kleine hat wirklich Fortschritte gemacht. Seit sie laufen kann, ist sie unabhängiger und aufmerksamer. Sie versteht und kommuniziert mehr», sagt Silberleib. Zurzeit übt sie mit dem Mädchen, Farben und Tiere zu erkennen.
Die anderen Kinder aus der Clowns-Gruppe stören sich nicht an Anitas Defiziten. Im Gegenteil: Sie registrierten ihre Fortschritte, sagt Ariela Silberleib. «Statt etwa zu sagen: ›Anita kann nicht sprechen‹, fällt ihnen positiv auf, dass sie nun laufen kann. Alle mögen Anita, sie kennen sie und beziehen sie mit ein.»
Die individuelle Betreuung und Förderung behinderter Kinder bei gleichzeitiger Integration in eine normale Schulklasse oder Kindergartengruppe zeichnet die Escuela Comunitaria Arlene Fern aus. Für ihr Inklusionsmodell wurde die argentinische Privatschule kürzlich von der US-amerikanischen Ruderman Family Foundation ausgezeichnet. Sie erhielt als eine von weltweit fünf jüdischen Einrichtungen den «Ruderman Prize in Disability».
Millionenspende Die Arlene-Fern-Schule liegt in einer ruhigen Straße in Belgrano, einem bürgerlichen Stadtteil von Buenos Aires. Gegründet wurde sie vor 18 Jahren von der argentinischen Fundación Judaica, die der reform-konservative Rabbiner Sergio Bergman leitet. Das Gebäude kaufte die Stiftung mithilfe der Millionenspende eines Ehepaars, nach dessen verstorbener Tochter sie die Schule schließlich benannte.
Die Idee, im Bereich der Inklusion Pionierarbeit zu leisten, war von Anfang an da. Doch am Anfang standen auch die Vorurteile. Ähnlich wie in Deutschland gehen in Argentinien die meisten Kinder mit Behinderungen auf Sonderschulen.
«Damals fragten uns Eltern, ob die Integration von behinderten Kindern die Qualität unseres Unterrichts beeinträchtigen würde und ob die Behinderung ›ansteckend‹ sein könnte», erinnert sich Schulleiterin Bea Plotquin. Mit der Zeit – und mit viel Überzeugungsarbeit – gelang es der Schulleitung und den Lehrern, derartige Vorurteile zu überwinden. In diesem Schuljahr, erzählt Plotquin, hätten zum ersten Mal viele Eltern ihre nichtbehinderten Kinder angemeldet, weil sie vom Inklusionsmodell der Schule angetan seien. «Am Anfang dachten wir selbst in erster Linie an die behinderten Kinder, die das Recht haben sollten, auf eine ›normale‹ Schule zu gehen. Doch dann haben wir gemerkt, dass die nichtbehinderten Kindern fast noch mehr profitieren, weil sie von klein auf lernen, völlig vorurteilsfrei und natürlich mit Behinderten umzugehen», so Plotquin.
Verständigung Mati und Iván gehen beide in die siebte Klasse. Iván gehört zu den Klassenbesten – obwohl er nicht sprechen kann. Er verständigt sich mithilfe eines Computers und eines Bretts, auf dem er mit seinem Finger Buchstaben und Zahlen zeigt. Mati und die anderen Mitschüler haben gelernt, Iván zu verstehen, wenn er in rasender Geschwindigkeit Wörter bildet oder Rechenaufgaben löst.
«Am Anfang war es schwierig, Iván zu folgen. Jetzt haben wir uns alle daran gewöhnt», sagt Mati – und fügt hinzu: «Iván ist mein Freund, und er ist sehr intelligent.» Wie Anita im Kindergarten hat auch Iván seine eigene Integrationslehrerin. 32 der 550 Schüler, die die Arlene-Fern-Schule besuchen, haben eine Behinderung. Sie alle erhalten eine auf sie persönlich zugeschnittene Unterstützung und werden gefördert.
Der 13-jährige Martín etwa, ein Junge mit Down-Syndrom, hat eine Integrationslehrerin, die den Lehrstoff seinen Fähigkeiten anpasst. Martíns Eltern sind froh, dass es für ihren Sohn eine Alternative zur Sonderschule gibt. «Wir wollen, dass Martín unabhängig wird», sagt sein Vater Alejandro Cytrynbaum. «Martín soll an ›normalen‹ Orten aufwachsen, damit er später einmal eine ›normale‹ Arbeit ausüben kann.»
Martíns Mitschüler hätten von seinem Sohn gelernt, dass nicht alle Menschen gleich seien, meint Cytrynbaum. Das sei das Motto ihrer Schule, bestätigt Tali Joffe, die Leiterin des Kindergartens: «Somos todos diferentes» (Wir sind alle unterschiedlich). Und das schließe auch die nichtbehinderten Kinder mit ein.
Anders als an anderen argentinischen Schulen, die die Inklusion versuchen, gehören an der Arlene-Fern-Schule die Integrationslehrer zum festen Personal. Das große Lehrerkollegium und die technische Ausstattung, die für die Integration behinderter Kinder notwendig sind, verursachen hohe Kosten. Was das Schulgeld betrifft, liegt die Escuela Comunitaria unter den jüdischen Schulen in Buenos Aires im Mittelfeld. Ärmere Familien werden durch einen Solidaritätszuschlag der anderen unterstützt.
Dass die Schule nicht nur in einzigartiger Weise menschliche Werte vermittelt, sondern auch akademisch exzellent ist, hat sich längst herumgesprochen. Schon die Allerkleinsten lernen Englisch, und ab der ersten Klasse sprechen die Schüler diese Sprache jeden Nachmittag. Nachmittags steht auch die Vermittlung jüdischer Religion und Tradition auf dem Lehrplan, die in der Escuela Comunitaria eine wichtige Rolle spielt.
«Unsere Schule wurde kurz nach dem Attentat auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA gegründet», blickt Kindergartenleiterin Tali Joffe zurück. «Sie steht für Aufbau und Leben – als Antwort auf Tod und Zerstörung.»