Vor etwa acht Jahren bemerkte Laura Geller, damals Senior Rabbi von Temple Emanuel of Beverly Hills, dass viele ältere Mitglieder die Gemeinde verließen. Aktive Rentner, deren Kinder erwachsen geworden waren, fühlten sich in der Synagoge nicht mehr gut aufgehoben.
Geller, die 1994 als erste Frau eine große städtische Gemeinde in den USA übernommen hatte, stellte ein Team zusammen, um dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Sie lud rund 250 Mitglieder der relevanten Zielgruppe zu Gesprächen ein, um von ihren Sorgen und Wünschen für ihr weiteres Leben zu erfahren.
Einer von ihnen war Pete Siegel. Er war jahrelang bei Temple Emanuel aktiv und beteiligte sich vor allem gern an den Angeboten der Erwachsenenbildung. Er nahm an einem solchen Treffen im Wohnzimmer eines Gemeindemitglieds teil und war beeindruckt. »Wow, das hier ist so viel mehr, als wir bisher machen«, dachte der ehemalige IT-Manager.
PLANUNG Gellers Team fand heraus, dass vier Themenbereiche in den Diskussionen immer wieder auftauchten: Gemeinschaft, Spiritualität, Sorgen über das Altern und der Wunsch, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Nach längerer Planung erwuchs vor fünf Jahren aus den gesammelten Daten mithilfe von Menschen wie Siegel, der inzwischen Vorsitzender des Vorstands ist, das ChaiVillageLA.
Anders, als man denken könnte, handelt es sich dabei nicht um ein Dorf im geografischen Sinn, sondern um eine Gemeinschaft von älteren Menschen zwischen Mitte 60 und 100, die so lange wie möglich ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben führen möchten. Einige von ihnen leben in Altenheimen oder in betreuten Wohnanlagen.
Die Mitglieder zahlen einen regelmäßigen Beitrag und erhalten dafür Dienstleistungen wie Fahrdienste und Lebensmittellieferungen sowie Zugang zu Veranstaltungen und Kursen.
Die meisten Mitglieder suchen Spiritualität und Gemeinschaft.
»ChaiVillageLA ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass wir uns so gut in Los Angeles eingelebt haben«, berichtet die 75-jährige Susan Levine, die vor sechs Jahren mit ihrem Mann, einem Rabbiner im Ruhestand, von Florida nach Los Angeles zog, um in der Nähe ihrer Tochter einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
Etwa die Hälfte der 240 Mitglieder kommen von Temple Emanuel. Die anderen sind Mitglieder einer anderen Gemeinde: Temple Isaiah in Los Angeles. Eine weitere Gemeinde ins Boot zu holen, war in der Gründungsphase nötig geworden, weil sich herausstellte, dass sich eine Synagoge allein nicht um Fördergelder bewerben kann.
Die Village-Bewegung begann im Jahr 2000 in Boston, als sich in einer Wohngegend zwölf Nachbarn zusammentaten, um eine Art Verein für selbstbestimmtes Altern zu gründen. Sie zahlten Geld in einen gemeinsamen Topf ein, aus dem zum Beispiel Landschaftspfleger, Fahrdienste oder ein Hausmeister bezahlt wurden.
Inzwischen gibt es mehr als 200 Villages in Amerika. ChaiVillageLA ist das erste, das einer religiösen Einrichtung angeschlossen ist. Aufgrund des Erfolges ihres Modells erhält Geller viele Anfragen von Gemeinden aus dem ganzen Land. Inzwischen hat sie mit einem Berater ein Forum gegründet, um andere bei der Gründung eines Village zu unterstützen.
BILDUNGSANGEBOTE Geller hatte erwartet, dass Interessenten dem Village beitreten würden, um von den materiellen Vorteilen zu profitieren und die Bildungsangebote zu nutzen oder weil sie der Gesellschaft etwas zurückgeben wollten. Doch es stellte sich heraus: Der Hauptgrund ist die Suche nach Freunden.
»Wer hätte gedacht, dass ich als viel beschäftigte Gemeinderabbinerin eines Tages mehr Freunde brauche?«, wundert sich Geller. »Aber so ist es gekommen«, sagt sie. Vor fünf Jahren ging sie in Rente – dies veränderte ihr Leben stark. Freunde, die man über die Kinder kennengelernt hat, oder Arbeitskollegen sind ab einem bestimmten Alter oftmals nicht mehr Teil des eigenen Lebens.
Falls sie einmal ernsthaft krank werde, würden ihre Kinder sofort anreisen, ist sich Geller sicher. »Aber wer hilft mir, wenn ich mit meinem Garten nicht weiter weiß oder wenn die Mülltonnen hinausgestellt werden müssen?« Der Spruch »It takes a village« gelte nicht nur bei der Kindererziehung, sondern auch beim würdevollen und selbstbestimmten Altern, sagt Geller.
Als im Frühjahr 2020 die Coronavirus-Pandemie begann, wurde den Verantwortlichen von ChaiVillageLA klar, dass es für eine lange Zeit keine Präsenzveranstaltungen mehr geben würde. »Einige unserer Mitglieder sind Ärzte und Wissenschaftler, die haben uns gut beraten«, sagt Siegel nicht ohne Stolz.
Seit der Pandemie sind auch die über 90-Jährigen alle online.
Devorah Servi, die Geschäftsführerin von ChaiVillageLA, ist beeindruckt von der Flexibilität der Mitglieder und der Kreativität der Verantwortlichen. »Durch die Pandemie sind wir wirklich zum Leben erwacht«, sagt sie. Seitdem gibt es jeden Tag mindestens eine virtuelle Veranstaltung. Viele Angebote, sagt sie, würden von den Mitgliedern selbst geplant und geleitet.
SCHULUNGEN Die größte Hürde war technischer Natur. Servi und ihr kleines Team boten Schulungen für 130 Mitglieder an, damit sie von den neuen Online-Programmen auch Gebrauch machen können. Vor der Pandemie konnten noch nicht alle mit einem Computer und mit dem Internet umgehen. Inzwischen hat sich das geändert. »Heute sind alle, auch unsere über 90-Jährigen, online«, berichtet Servi. »Das ist schon ziemlich cool.«
Geller, die mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann Richard Siegel die Idee für das Village entwickelte, ist sich sicher, dass das Projekt einigen Leuten während der Pandemie mindestens im übertragenen Sinne das Leben gerettet hat. »Einsamkeit ist ein großes und generationsübergreifendes Problem«, sagt sie. Besonders akut sei die Situation aber für alleinlebende ältere Erwachsene während der Pandemie geworden.
Nach einer anfänglichen Anpassungsphase haben viele Mitglieder wie Susan Levine die neue, virtuelle Situation schätzen gelernt. Sie müssen zum Beispiel nicht mehr weit fahren, um Veranstaltungen zu besuchen. »Ich finde die virtuellen Museumsbesuche großartig!«, sagt sie. »Und ChaiVillageLA hat uns geholfen, zwischenmenschliche Verbindungen aufrechtzuerhalten.«
Vor dem Lockdown konnten nur etwa 20 Teilnehmer bei der beliebten Reihe »Discussion with Dessert« (Diskussion mit Nachtisch) mitreden, denn mehr Menschen passten nicht ins Wohnzimmer der Gastgeberin. Doch seit der Pandemie schickt sie ein Rezept per E-Mail – und die Teilnehmer, deren Zahl sich dank Zoom verdoppelt hat, können ihren Nachtisch selbst zubereiten.
Mehr Infos unter www.chaivillagela.org