Nathan Willner war nervös in der vergangenen Woche, »das alles geschah doch sehr dicht vor unserer Haustür«, sagte er, während er die Freiwilligen seiner Nachbarschaftsorganisation in Patrouillen einteilte. Willner ist Leiter der Shomrim, einem Zusammenschluss jüdischer Wachmänner aus Park Heights.
Das Viertel ist ein ruhiger jüdischer Wohnbezirk im Nordwesten von Baltimore – doch sein Zentrum liegt nur knapp einen Kilometer von der Mondawmin Mall entfernt, jenem Einkaufszentrum, von dem aus sich vergangene Woche die schweren Unruhen über die ganze Stadt ausbreiteten.
Shomrim Zum Glück für Willner und die Menschen von Park Heights drängten die zornigen marodierenden Jugendlichen an jenem verhängnisvollen Montag jedoch gen Süden, in Richtung des Geschäftsbezirks rund um den Hafen von Baltimore. Park Heights blieb weitestgehend verschont. Der einzige Einsatz von Willners Shomrim war es, den schwarzen Nachbarn auf der anderen Seite des Northwestern Highway, der Grenze zum Upton Distrikt, beim Aufräumen zu helfen.
Es war ein versöhnlicher Moment inmitten einer trüben Woche für die Stadt Baltimore. Nicht nur die Shomrim zeigten sich solidarisch mit ihren Nachbarn, die von Armut, Polizeigewalt und frustrierten Jugendlichen gebeutelt sind, und das nicht erst seit dem Tod von Freddie Gray. Die Juden Baltimores, die seit mehr als 250 Jahren in der Hafen- und Handelsstadt eine Heimat gefunden haben, sind in ihrer Mehrheit besorgt über die andauernde Diskriminierung und Brutalisierung ihrer afroamerikanischen Nachbarn.
So marschierte bei der Großdemonstration am Samstag anlässlich der Anklage gegen sechs Polizisten, die Freddie Gray vermutlich auf dem Gewissen haben, eine ansehnliche jüdische Delegation mit. Organisiert wurde das Aufgebot von den »Jews United for Justice«. »Wir stehen Seite an Seite mit unseren Nachbarn in unserer Forderung nach Gerechtigkeit für Freddy Gray«, sagte Molly Amster, die Direktorin von Jews for Justice in Baltimore.
Mit bei der Demonstration war auch Rabbi Daniel Cotzin Burg von der Beth-Am-Synagoge. Der Rabbiner kennt die Verhältnisse in dem Schwarzenviertel, die zu den Ausschreitungen geführt haben, nur allzu gut. Seine Synagoge steht heute mitten im vorwiegend afroamerikanischen Bezirk Reservoir Hill. Bei der Gründung der Gemeinde vor rund 100 Jahren war die Gegend noch größtenteils jüdisch.
Burg glaubt, dass die Ausschreitungen von einer kleinen Gruppe Jugendlicher ausgingen, die »dumme Entscheidungen getroffen haben«. Die Mehrheit der Nachbarn, sagt er, habe das nicht gewollt. Trotzdem ist er letztlich dankbar, dass es so gekommen ist. »Die Stadt und die Nation führen jetzt einen lange fälligen Dialog über Polizeigewalt und Rassismus.«
So harmonisch und solidarisch, wie sich die jüdische und die schwarze Bevölkerung von Baltimore in der vergangenen Woche präsentiert haben, war das Bild in der Stadt nicht immer. Erst fünf Jahre ist es her, dass Spannungen zwischen Juden und Afroamerikanern beinahe übergekocht und in offene Feindseligkeit umgeschlagen wären. Damals wurde ein schwarzer Jugendlicher in Park Heights von einem der Nachbarschafts-Shomrim mit einem Stock verprügelt. Der junge Mann hatte sich nichts anderes zuschulden kommen lassen, als dass er die Demarkationslinie zwischen den Bezirken überschritt. »Du hast hier nichts verloren«, herrschte der Shomer den Schwarzen an.
De-Facto-Apartheid Der Zwischenfall traf bei den Afroamerikanern von Baltimore einen Nerv. Nachdem die Schwarzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Arbeitskräfte aus dem Süden in Mengen in die Hafenstadt strömten, hatten sie gegen eine staatlich gewollte und geförderte De-facto-Apartheid zu kämpfen. Für Immobilieneigentümer, die an Schwarze vermieteten, war es von Anfang an unmöglich, staatlich geförderte Hypotheken zu bekommen, ebenso wie für bauwillige Afroamerikaner. Vermieter nutzten die Notlage aus und verlangten überzogene Preise. So waren zwei Dinge garantiert: Ghettoisierung und Armut.
Dass ein Afroamerikaner geschlagen wird, wenn er sein Ghetto verlässt, hatte deshalb bei den Schwarzen Baltimores eine bittere Symbolkraft. Doch die Anführer, sowohl der Juden als auch der Afroamerikaner, insbesondere die Geistlichen, handelten damals schnell und effektiv, um die Animositäten nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Man wollte verhindern, dass etwas Ähnliches passierte, wie Anfang der 90er-Jahre im New Yorker Stadtteil Crown Heights, als Schwarze und Juden in tagelangen Straßenschlachten aneinandergerieten. Auslöser war dort, dass ein jüdischer Student am Schabbat von einem Afroamerikaner überfahren wurde. Daran entzündete sich die Frage, wem das Viertel gehört. Der Konflikt brachte auch Antisemitismus zutage, geschürt vom Vorsitzenden der Nation of Islam, Louis Farrakhan.
Bürgerrechte Diese Zeiten sind längst vorbei. Inzwischen besinnt man sich in Baltimore wieder auf die große Zeit der Bürgerrechtsbewegung, als Anführer der rund 45.000 Juden der Stadt Arm in Arm mit Martin Luther King für Bürgerrechte demonstrierten. »Die jüdische Gemeinde muss an der Spitze des Kampfes gegen die unerträgliche rassische und ökonomische Ungleichheit in dieser Stadt stehen«, sagt Molly Amster von Jews for Justice.
Die Solidarität geht in beide Richtungen. So hatte Marc Levy mehr Helfer beim Aufräumen seines Sportgeschäfts, das den Randalierern zum Opfer gefallen war, als er brauchen konnte. »Er leidet, und wir leiden«, sagt Nachbarin Venos Carruthers.