Wenn Hass in Gewalt mündet, sind Polizei, Justiz und Staat gefordert. Um über die Sicherheit jüdischer Gemeinden zu sprechen, kamen vergangene Woche in Berlin rund 80 Experten aus Europa und Nordamerika zusammen. ODIHR, das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte der internationalen Sicherheitsorganisation OSZE, hatte führende Repräsentanten jüdischer Gemeinden, Diplomaten sowie Vertreter von Regierungen und Menschenrechtsorganisationen zu einer Konferenz eingeladen. Dabei ging es vor allem darum, ein Forum zu schaffen, um Gefahren zu analysieren, Erfahrungen auszutauschen und Bedürfnisse zu artikulieren.
pflicht »Egal, wie viele Mitglieder eine jüdische Gemeinde hat, es ist die Pflicht des Staates, für Minderheiten zu sorgen«, sagte Olexandr Feldman, Präsident des Ukrainischen Jüdischen Komitees. In seinem Land hat die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Die Sicherheit jüdischer Gemeinden sei früher kaum ein Thema gewesen, sagte Feldman, »heute ist sie Thema Nummer 1«.
Jahr für Jahr müssen jüdische Einrichtungen mehr für ihre Sicherheit ausgeben. »Wir zweigen Geld von der Schule ab, damit unsere Mitglieder überhaupt dorthin gehen können«, schilderte Ariel Muzicant die Lage. Der 61-Jährige war bis 2012 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und kümmert ist heute im Europäischen Jüdischen Kongress (EJC) für Sicherheitsfragen zuständig. Als Großvater bringe er gelegentlich seine Enkel zur Schule, erzählte er. »Ich bekomme Herzschmerzen, wenn ich sehe, dass die Kinder von bewaffneten Sicherheitskräften bewacht werden müssen.« Angesichts dessen stelle sich die Frage, ob jüdisches Leben in Europa überhaupt eine Zukunft habe, so Muzicant.
Dass Führungskräfte jüdischer Gemeinden über dieses brisante Thema nicht nur intern diskutieren, sondern gemeinsam mit Vertretern europäischer Regierungen nach Lösungen suchen, ist neu. Wie erforderlich es sei, unterstrich der Antisemitismusbeauftragte der OSZE, Rabbi Andrew Baker, bei der Eröffnung der Konferenz. Wie nur wenige kennt er die Herausforderungen, vor denen jüdische Gemeinden in Europa heute angesichts zunehmenden Hasses stehen.
Es sei wichtig, dass die Teilnehmer des Treffens die Situation verstehen und dass neben nationalen auch länderübergreifende Lösungen gefunden werden, betonte Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. »Die Bedrohung ist global, deshalb sollten auch unsere Vernetzung sowie unsere Aufklärungs- und Gegenmaßnahmen gemeinsam und global sein.« Die jüdischen Gemeinden bräuchten vielschichtige Sicherheitslösungen, forderte Kramer, denn vielschichtig sei auch die Bedrohung: »Sie reicht von Rechts- und Linksextremisten, Neonazis, verschiedenen ›traditionellen‹ Antisemiten bis zu Islamisten und selbst ernannten ›Dschihadisten‹.«
impuls Floriane Hohenberg, bei ODIHR Leiterin der Abteilung »Toleranz und Antidiskriminierung«, erzählte den Teilnehmern der Konferenz von einer Reise quer durch Europa. Anderthalb Jahre lang besuchte sie jüdische Gemeinden in verschiedenen Ländern. »Die Situation ist sehr vielfältig«, hat sie beobachtet. Und: »Alle erzählten mir, dass sie mit den staatlichen Behörden über ihre Sicherheit im Gespräch seien.« Die Reise habe ihr den Impuls gegeben, diese Konferenz zu organisieren.
»Wir wissen, dass Menschen Angst haben, zur Synagoge zu gehen«, sagte Hohenberg. »Und wir wissen auch, dass Menschen Angst haben, in eine jüdische Schule zu gehen.« Doch was der OSZE oftmals fehlt, sind konkrete Zahlen. Die meisten Mitgliedsstaaten hätten zwar zugestimmt, Hasskriminalität zu erfassen und entsprechende Daten an die Organisation weiterzuleiten, doch in Europa halten sich nur fünf Länder an das Versprechen. »Aber es ist enorm wichtig, diese Daten bekannt zu machen, um die Bedrohung zu bekämpfen«, hob Hohenberg hervor.
»Bedauerlicherweise sind auch bei uns die jüdischen Einrichtungen gefährdet und schutzbedürftig«, wandte sich in einer kurzen Ansprache Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich an die Konferenzteilnehmer. Man nehme das Problem sehr ernst, sagte der CSU-Politiker. »Die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus genießt absolut oberste Priorität.«
Dass dies auch in Skandinavien so wäre, wünscht sich Jonas Zolkén. Der junge Mann aus Malmö ist Regionaldirektor für Schweden beim Nordischen Jüdischen Sicherheitsrat. »Leider sieht bei uns die Zusammenarbeit mit den staatlichen Sicherheitsbehörden nicht so gut aus«, sagte er. Seit dem Gazakrieg 2009 habe sich die Lage der Juden sehr verschlechtert. »Die Störenfriede sind meist radikale Muslime, vor allem junge Männer.« In Malmö sei die Situation besonders ernst: Dort steht einer winzigen jüdischen Gemeinde eine sehr große muslimische Community gegenüber.
Verteidigung Stephan J. Kramer hatte zuvor betont, dass vor allem die nationalen Sicherheitsbehörden sowie Polizei und Justiz die Bürger gegen in- und ausländische Bedrohungen verteidigen müssen. »Wir, die Juden, sind solche Bürger und versuchen in keiner Weise, eine separate Verteidigungslinie aufzubauen. Trotzdem haben wir Grund, besorgt zu sein, und machen unsere eigenen Hausaufgaben – natürlich innerhalb des rechtlichen Rahmens. Wir alle wissen, wenn Juden irgendwo in der Welt bedroht sind – wer wird sich um unsere Sicherheit besser kümmern als wir Juden selbst?«
Der Geschäftsführer des jüdischen Dachverbands in Tschechien, Tomas Kraus, berichtete von einem »schockierenden Erlebnis«: Vor nicht allzu langer Zeit sei er mit EJC-Vertretern zu Besuch im Europäischen Parlament gewesen, erzählte er. Dort habe ein hoher Beamter zu ihnen gesagt: »Freunde, wenn ihr im Nahen Osten Frieden macht, dann werdet ihr auch in Europa Frieden haben.« Bei den staatlichen und europäischen Behörden sei also noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten und einiges zu tun, um das Bewusstsein für die Bedrohung der jüdischen Gemeinden zu wecken, sagte Kraus. Die Berliner Konferenz habe einen Anfang gemacht.