Lektüre

Gelobtes Land der Mitte

Im Jahre 1940 war der amerikanische Journalist Theodore White, den alle Welt »Teddy« nannte, zu Gast bei Zhou Enlai, damals noch ein kommunistischer Guerillaführer, der später unter Mao zum chinesischen Premierminister aufstieg. Es gab ein Festbankett. Zuerst wurden köstliche Vorspeisen gereicht, gefolgt von Bambussprossen mit Huhn, dann Entenleber und endlich – als Hauptgang und krönender Abschluss – ein goldbraun geröstetes Ferkel.

»Bitte, bitte«, sagte Zhou Enlai und ermunterte Teddy, er möge doch bitte zugreifen. Nun war White keineswegs fromm, aber er war 1915 in Boston doch in eine jüdische Familie hineingeboren worden. Am Schabbat wurden bei ihnen selbstverständlich Lichter gezündet, und es gab einen Kiddusch. Allerdings wütete sein Vater, ein überzeugter Sozialist, gleichzeitig gegen die Religion und nannte sie einen Aberglauben.

Später machte ein Stipendium es möglich, dass Teddy in Harvard studierte, und dort verliebte sich der überzeugte Zionist in die chinesischen Sprachen und die chinesische Geschichte. Seine Reisen hatten den überzeugten Linken ins britische Mandatsgebiet Palästina, nach Singapur und Shanghai geführt. Und nun sah er sich einem Spanferkel gegenüber: Die Regeln der chinesischen Gastfreundschaft verlangten, dass er mit Heißhunger über das Gericht herfiel.

Teddy aber nahm all seinen Mut zusammen und sagte, er als Jude könne diese Schweinerei nicht essen. Es folgte eine Sekunde donnernden Schweigens, dann erwiderte Zhou Enlai: »Teddy, wir sind hier in China. Schau noch einmal hin. Sieh es dir an. Für dich sieht es aus wie ein Schwein. Aber hier in China ist das kein Schwein – es ist eine Ente.«

schreck Das ist nur eine Anekdote von vielen, die Matthias Messmer in seinem Buch Jewish Wayfarers in Modern China erzählt. Alle Anekdoten sind verbürgt, es handelt sich schließlich um ein wissenschaftliches Werk mit Fußnoten. Wenn man den Titel liest, denkt man freilich im ersten Schreck: Juden und China? Soll das ein Witz sein? Im zweiten Moment fällt einem dann vielleicht noch das Ghetto von Shanghai ein, jenes winzige Areal, in dem vielleicht 20.000 Juden – vor allem Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland – unter japanischer Besatzung den Völkermord überlebten.

Matthias Messmer aber zeigt, dass die Geschichte der Juden im modernen China viel weiter in die Vergangenheit zurückreicht. Sie beginnt mit irakischen Juden, die sich nach 1820 aus wirtschaftlichen Gründen auf die Wanderschaft machten. Viele ließen sich in Indien nieder, aber manche reisten auch weiter und landeten endlich in Shanghai.

Sie hatten all die vertrauten Namen von jüdischen Familien aus Bagdad: Sassoon, Kedouri, Ezra, Solomon, Abraham. Freilich gab es in Shanghai nie mehr als 800 von ihnen; und nicht alle wurden so fabelhaft reich wie Victor Sassoon, der gleich zwei Firmen besaß. Sir Victor muss ein Kerl gewesen sein, wie ihn in einem Film am besten Sean Connery spielen könnte: ein Veteran des Ersten Weltkrieges, der in der britischen Armee gedient hatte, ein Lebemann, Charmeur und Schlitzohr, ein Liebhaber von Pferderennen, der am Schabbat aber – wie es sich gehört – zu Hause blieb.

Selbstverständlich profitierten seine beiden Firmen auch vom Opiumgeschäft; und selbstverständlich unterstützte er jede chinesische Regierung bis zu jener von Tschiang Kai-Schek mit großzügigen Spenden. Auch die jüdischen Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg hatten in ihm einen zuverlässigen Freund. Sassoon machte keinen Hehl aus seiner Gegnerschaft zu den japanischen Invasoren; er war ein chinesischer Patriot. Endgültig aus war es für ihn, als die Kommunisten die Macht ergriffen. »Ich habe Indien aufgegeben, und China hat mich aufgegeben«, sagte er danach.

Hassliebe Bei Matthias Messmer kommen sie alle vor: die jüdischen »fellow travellers«, die in Mao einen Messias sahen, und die jüdischen Antikommunisten, die ihn erbittert bekämpften. Zur zweiten Sorte gehörte der Rabbinersohn George Ephraim Sokolsky, auch kurz »Sok« genannt, der 1893 in New York geboren wurde. Er war China zeitlebens in einer merkwürdigen Hassliebe verbunden, heiratete eine chinesische Frau, die aus Jamaika stammte, und beklagte wortreich den Schmutz und die Korruption im Reich der Mitte, aber auch die Neigung der Chinesen, für alles Elend den Westen verantwortlich zu machen.

1927 sah Sokolsky voraus, dass das Bündnis der Kuomintang mit den Kommunisten zerbrechen würde. Anders als die meisten westlichen Beobachter glaubte er, dass Letztere gute Chancen hätten, an die Macht zu kommen; und er schrieb, dass an der Spitze einer künftigen Regierung wahrscheinlich Mao stehen werde. Außerdem prophezeite er, die Chinesen würden mit dem Kommunismus dasselbe anstellen wie vorher schon mit dem Buddhismus: Sie würden ihm chinesische Züge verleihen.

Später gehörte Sokolsky zu jenen, die eine kommunistische Verschwörung im State Department dafür verantwortlich machten, dass Mao die Nationalisten besiegte und nach Taiwan davongejagt hatte. Sokolsky sprach sich vehement dagegen aus, die »Volksrepublik China« diplomatisch anzuerkennen.

kommunisten Auf der anderen Seite der politischen Barrikade stand Israel Epstein, 1915 in Polen geboren, der mit seinen Eltern – litauischen Juden – schon als Kind nach China kam und in Tianjin aufwuchs. Er besuchte dort die englische Schule und kam mit marxistischen Ideen in Berührung. Während des japanisch-chinesischen Krieges arbeitete er als Reporter, und schon damals hatte er die Neigung, alles, was ihm die Kommunisten erzählten, für bare Münze zu nehmen.

Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Amerika kehrte er 1951 nach China zurück, und dort wurde er zu einem offenen Propagandisten des kommunistischen Regimes. Der Schmutz, die Korruption und die feudale Ausbeutung seien durch Gleichheit, Ehrlichkeit und Sauberkeit ersetzt worden. 1957 erhielt Israel Epstein die chinesische Staatsbürgerschaft, 1983 wurde er Mitglied der »Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes« – eines rein beratenden, scheindemokratischen Gremiums, in dem auch Nichtkommunisten sitzen.

Matthias Messmer berichtet, dass von zehn Nichtchinesen, die dort vertreten waren, fünf Juden gewesen seien. Während der Kulturrevolution verbrachte Epstein Jahre in Einzelhaft, aber das erschütterte seine Nibelungentreue zum chinesischen Kommunismus nicht. Er starb 2005 und liegt in Babaoshan begraben, einem Friedhof für Helden der Revolution in Peking.

abenteurer So könnte man Seiten um Seiten mit den Geschichten füllen, die Messmer in seinem Buch zusammengetragen hat. Da war der Abenteurer, Betrüger und Tunichtgut Ignaz Trebitsch-London, der aus einer orthodoxen Familie in der Donaumonarchie stammte, sich am faschistischen Kapp-Putsch von 1920 beteiligte und seine Tage als Abt eines buddhistischen Klosters in Shanghai beschloss. Da war Eva Siao aus Breslau, eine Emigrantin, die als Fotografin die kommunistische Revolution in China mit Kritik und Sympathie begleitete. Man staunt beim Lesen, wie tief Juden sich immer wieder mit China eingelassen, wie viel Herzblut sie für dieses fremde Riesenreich vergossen haben – als wär’s ein Stück von ihnen.

Matthias Messmers Buch ist eine Schatzkammer, dem Autor gebührt großer Dank. Zwei kritische Anmerkungen kann man ihm dennoch nicht ersparen. Die erste und weniger wichtige: Gewiss, das Buch beschränkt sich, wie schon der Titel sagt, auf die Epoche der Moderne. Trotzdem hätte man sich zumindest im Vorwort ein paar Worte über die uralte Judengemeinde von Kaifeng, über jüdische Händler an der berühmten Seidenstraße gewünscht. Sei’s drum.

Der zweite Einwand ist gravierender: Matthias Messmer spart nicht mit Kritik an Joseph McCarthy, dessen Kommunistenfurcht er abscheulich findet. Gleichzeitig fallen Messmer immer wieder begütigende Worte für jene Juden ein, die Mao Tse-tung glorifizierten. Nun mag man von Senator McCarthy halten, was man will – aber er war jedenfalls kein sadistischer Massenmörder, der Millionen von Menschen wissentlich dem Hungertod preisgab und sich, kichernd vor Vergnügen, Foltern für seine Feinde ausdachte.

Mao Tse-tung war ein Monster, ein gelehriger Schüler von Stalin, der seinen Lehrmeister am Ende weit übertraf. Was sich nach 1949 in China ereignete, war keine Befreiung, sondern ein Blutbad; das Herz stockt, wenn man Berichte über den »Großen Sprung nach vorn« liest, um von der grauenhaften Kulturrevolution zu schweigen. Es gibt keinen Grund, das nicht offen zu sagen.

Matthias Messmer: Jewish Wayfarers in Modern China. Tragedy and Splendor. Lexington Books, Plymouth CA 2012, 257 S., 63 US-$

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