Der Ex-Präsident hinter Gittern, das Land im Chaos – und mittendrin eine kleine jüdische Gemeinde. In Südafrika gab es nach der Inhaftierung des ehemaligen Staatschefs Jacob Zuma gewaltsame Ausschreitungen. Mehr als 200 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Anarchie, die Anfang Juli den Alltag in mehreren Städten lahmlegte, hat Südafrikas jüdische Minderheit nachdenklich gestimmt: Sollen sie auswandern? Oder trotz Plünderungen, Tränengas und Armee »Ja« zu Südafrika sagen?
Seit mehr als zehn Jahren ist Nelson Mandelas »Regenbogen-Nation« in Aufruhr: Etliche Korruptionsskandale hatten die Regierungszeit von Jacob Zuma (2009–2018) überschattet und die Stimmung im Land aufgeheizt. Entsprechend feierten viele Zumas Inhaftierung als »Sieg für die Rechtsstaatlichkeit«.
Der ehemalige Staatschef hatte sich geweigert, vor einer Korruptionskommission auszusagen, und wurde wegen Missachtung der Justiz zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Doch nur Tage nach seinem Haftantritt flogen in seiner Heimatprovinz KwaZulu-Natal die ersten Gummikugeln, Tränengas und scharfe Munition.
Seit mehr als zehn Jahren ist Nelson Mandelas »Regenbogen-Nation« in Aufruhr.
In der Hafenmetropole Durban, dem Wirtschaftszentrum Johannesburg und weiteren Städten im Osten des Landes gingen die Proteste bald in Plünderungen über: Mobs raubten mehr als 200 Einkaufszentren aus, steckten Tausende Läden in Brand. »Es ist wie eine Kriegszone. Ich habe seit Tagen nicht geschlafen«, sagte der Unternehmer Michael Ditz in Durban dem südafrikanischen »Jewish Report«.
ANSPANNUNG Nach dem Chaos wahrt die Armee den Frieden: Reservisten sind einberufen worden, 25.000 Soldaten patrouillieren nun durch die Städte von KwaZulu-Natal und des Wirtschaftszentrums Gauteng. Vor allem rund um Durban ist die Lage weiter angespannt. »Wir erleben immer noch Lebensmittel- und Medikamentenengpässe, da die Lieferkette weitgehend unterbrochen wurde«, sagt Alana Baranov, Vertreterin des South African Jewish Board of Deputies (SAJBD). »Die jüdische Gemeinde im Rest des Landes steht geschlossen hinter den Betroffenen und hat sichergestellt, dass Durbans Juden humanitäre Hilfe in Form von Medikamenten und Grundnahrung erhalten.«
Der private Krankenhausverband Netcare musste einen Notvorrat einfliegen lassen, nachdem Plünderer ein großes Verteilerzentrum für Pharmazeutika ausgeraubt hatten. Geschäftsführer Richard Friedland, der auch Mitglied der jüdischen Gemeinde ist, äußerte sich »tief betroffen, Mitbürger so leiden zu sehen«, zumal Südafrika derzeit seine dritte und bisher schlimmste Corona-Welle durchlebe.
Betroffen waren auch die Läden des jüdischen Unternehmers Ivan Saltzman. Er betreibt mit Dis-Chem eine der größten Drogerie- und Apothekenketten des Landes. 35 Lastwagen sind abgebrannt. Inzwischen ist die Autobahn N3 zwischen Johannesburg und dem Hafen von Durban wieder befahrbar. Begleitet werden die Lieferkonvois von Soldaten und privaten Sicherheitsunternehmen.
warnung Die Stiftung der jüdischen Anti-Apartheid-Politikerin Helen Suzman (1917–2009) ist alarmiert: »Uns beunruhigt nicht nur die Trägheit, mit der die Regierung auf die ernsthafte Gewalt reagierte, sondern auch die unzureichende Intervention«, hieß es in einer Presseerklärung. Auch die Mittel- und Oberschicht der Vielvölkernation hat der stärkste Gewaltausbruch seit Beginn der Demokratie 1994 nachdenklich gestimmt. Eine Migrationsagentur in Kapstadt verzeichnete nach den Unruhen ein historisches Hoch an Anfragen. Südafrikanische Zeitungen warnen bereits vor dem Abwandern von Fachkräften.
Seit einigen Jahren wandern immer mehr Juden aus. Alana Baranov vom jüdischen Dachverband SAJBD führt dies auf »Kriminalität, Korruption und wirtschaftliche Missstände« zurück, die durch die Corona-Pandemie noch verstärkt wurden. Zwar schüre die jüngste Gewalt erneut »wirtschaftliche und politische Unsicherheit«, einen Massenexodus erwartet Baranov deshalb aber nicht.
Geteilter Meinung sind vor allem junge Erwachsene, wie die Südafrikanische Union jüdischer Studenten (SAUJS) mitteilt: »Einige Studenten sind standhafte, stolze Südafrikaner, die im Land bleiben wollen. Andere lehnen Südafrika ab und möchten auswandern. Wiederum andere lieben Südafrika, doch haben sie wenig Hoffnung, was ihre Zukunft und die ihrer Kinder hier angeht.«
ARMUT Der emeritierte Geschichtsprofessor Milton Shain aus Kapstadt hält es für zu früh, über Auswandererzahlen zu sprechen. »Südafrikaner, darunter auch Juden, sind eine belastbare Gruppe. Außerdem betrachten Juden Südafrika als ihr Zuhause.« Laut Shain hätten die Chaostage Anfang des Monats die »Verzweiflung« der mittellosen Unterschicht aufgezeigt. Südafrika gilt als Land mit der ungerechtesten Einkommensverteilung der Welt. 55 Prozent der 60 Millionen Südafrikaner leben in Armut.
In den Vororten von Durban gingen Nachbarn geeint auf die Straße, um ihre Supermärkte zu verteidigen.
Zugleich hat die Bevölkerung sowohl während der Apartheid als auch während der Krisen in Zeiten der Demokratie Widerstandsfähigkeit bewiesen. In den Vororten von Durban gingen Nachbarn geeint auf die Straße, um ihre Supermärkte zu verteidigen. Die Fahrer von Sammeltaxis kesselten Shopping Malls ein, um Plünderer fernzuhalten. Mit Besen und Müllsäcken rückten Freiwillige in Townships aus, um Geröll und ausgebrannte Autoreifen wegzuräumen. In Facebook-Gruppen schlossen sich Zehntausende zusammen, um Geld und Lebensmittel für Betroffene zu sammeln.
»Was ich gesehen habe, ist ein geeintes Volk, entschlossen, dieses Land vor jedem zu beschützen, der es zerstören will«, sagte Präsident Cyril Ramaphosa bei einem Lokalaugenschein im größten Township des Landes, Soweto.
Es ist dieser Geist, der trotz aller Widrigkeiten auch an Südafrikas Juden nicht spurlos vorübergeht. »Ich denke, dass alle Juden hier bereits mit der Idee gespielt haben, auszuwandern«, meint Gavin Morris, Direktor des Jüdischen Museums in Kapstadt. Zugleich betont er aber: »Wer hier lebt, hat sich an ein gewisses Maß an Unsicherheit über seine Zukunft gewöhnt.« Die Gefahr begleite Südafrika und die jüdische Gemeinde bereits seit Generationen. »Vielleicht wandern manche aus, aber die meisten werden bleiben.«