Ukraine

Gegen die Gleichgültigkeit

Roman Shvartsman vor zwei Jahren bei einer Sitzung des Deutschen Bundestags Foto: picture alliance/dpa

Roman Markovich Shvartsman war ein Kind, als die Deutschen in seine ukrainische Heimatstadt Bershad nördlich von Odessa einmarschierten. Heute ist er ein alter Mann und macht sich dieser Tage auf von Odessa nach Berlin, um dort am 29. Januar im Deutschen Bundestag zu sprechen. Alljährlich wird mit einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Anlass ist die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945.

Dass er sehr alt sei, betont Shvartsman immer wieder. Fast klingt es, als wäre er ein wenig davon überrascht, wenn er sagt: »Ach, wissen Sie, ich bin ja schon 88 Jahre alt.« Die Nazis, unterstützt von rumänischen Faschisten, errichteten auch im kleinen Bershad ein Ghetto, und Shvartsman, seine Eltern und acht Geschwister wurden im September 1941 darin eingesperrt. Drei Jahre war er dort, wo Tausende verhungerten.

Shvartsman hat Hitler überlebt. Er hat Stalin überlebt. Er hat die Sowjetunion überlebt, die für ihn das »Gefängnis der Völker« war. Heute lebt er in der freien Ukraine, in Odessa – einer Stadt, die täglich von Russland beschossen wird. Und deshalb habe er zwei Botschaften, die er loswerden wolle, wenn er in Berlin sprechen wird, so Shvartsman: Er wolle davon erzählen, was passiert sei, damals im Ghetto von Bershad. Und er wolle von diesem »schändlichen Krieg« berichten, den die Ukrainer ertragen müssen. Ein Krieg, entfesselt vom »Hitler unserer Zeit: Putin«, den Shvartsman »Schurkenwesen« nennt, einen »primitiven Terroristen und Kriminellen«.

»Aus ›Nie wieder!‹ ist ›Kann ich denn wieder?‹ geworden.«

Roman Shvartsman

Es sei aber auch ein Krieg, bei dem der Westen nur zusehe und dessen Tragweite nicht im Ansatz begriffen werde. »Ihr tut nichts, ihr kuschelt mit ihm. Ihr begrüßt ihn, ihr fahrt zu ihm zu Besuch.« Die Welt habe den Grundsatz des »Nie wieder« zu einer Worthülse verkommen lassen. Also werde er »Deutschland darum bitten, uns Waffen zu liefern, die unseren Himmel vor Drohnen und Raketen schützen können«. Und dann sagt Shvartsman: »So wie Hitler mich als Juden während des Zweiten Weltkriegs im Ghetto töten wollte, so will Putin mich jetzt als Ukrainer in diesem schändlichen Krieg töten.«

Dreh- und Angelpunkt der jüdischen Gemeinde in Odessa

Shvartsman ist so etwas wie ein Dreh- und Angelpunkt der jüdischen Gemeinde in Odessa, einer Stadt, die das Regime Putins eine »russische Stadt« nennt. Wenn man Ukrainer fragt, dann ist Odessa rumänisch, griechisch und irgendwie auch russisch, aber letztlich eben doch vor allem eines: ukrainisch-jüdisch.

In der Stadt am Schwarzen Meer lebt Shvartsman seit rund 70 Jahren und sagt: »Ich bin ein Patriot der Ukraine.« Mit dem Fall der Sowjet­union sei »das jüdische Volk aus dem sowjetischen Ghetto herausgekommen«. Er habe in seinem Leben »erfahren, was Antisemitismus im sowjetischen Staat« bedeutet hat. Über die Ukraine sagt er: »Schauen Sie doch, wie wir friedlich leben, wie wir uns alle gegenseitig helfen in diesem Land.« Tagtäglich würden Spenden gesammelt für die Soldaten der militärischen Einheiten, für Verwundete, für Opfer von Angriffen, erzählt er weiter. In der Gemeinde täten sie alles, um der Gemeinschaft zu helfen.

In dieser Gemeinschaft hält Shvartsman die Stellung, auch mit seinen 88 Jahren. Er ist Vizepräsident der »Allukrainischen Vereinigung der Juden – ehemalige Häftlinge des Ghettos und der nationalsozialistischen Konzentrationslager«. Er ist zudem Stellvertretender Vorsitzender des »Rates der Odessaer Gesellschaft für jüdische Kultur« sowie Leiter des Sozial- und Kulturzentrums. Oder anders gesagt: Shvartsman ist ein Menschen-Magnet. Einer, der es versteht zu bewegen und der nicht müde wird zu erzählen, zu schildern und den Lehren, die er aus der Geschichte – seiner Geschichte – zieht, Ausdruck zu verleihen.

Am 29. Dezember 2023 wurde Shvartsmans Haus in Odessa direkt getroffen. Er hätte nicht überlebt, wäre er nicht in den Keller gegangen, erzählt er. Aber was tun, wenn es mehrmals täglich Alarm und Angriffe gibt, und zugleich keinen Strom und damit keinen Aufzug? »Ich lebe im zehnten Stock, ich bin körperlich eingeschränkt. Wissen Sie, was das bedeutet?«

Untätigkeit des Westens

Er halte die Untätigkeit des Westens nicht aus, diese Gleichgültigkeit und Trägheit, so der 88-Jährige. »Ich habe den schrecklichen Zweiten Weltkrieg überlebt, eine harte Hungersnot. Mein Leben war insgesamt schwer. Ich will, dass meine Kinder, meine Enkel und meine Urenkel das nicht erleben müssen. Aber ich habe das Gefühl, dass die Welt schweigt.«

Während Westeuropa schweige, frage »der Faschist Putin« unentwegt: »Kann ich denn wieder?« – und tue heute genau das, was Hitler während des Zweiten Weltkriegs getan habe. Putin stelle die Welt vor vollendete Tatsachen: »Kann man einen Krieg in Georgien führen? Ja, bitte! Kann man wieder die Krim erobern? Ja, bitte!«, regt Shvartsman sich auf. Damals habe die Weltgemeinschaft geschwiegen, und jetzt tue sie es ebenso. »Sie haben nichts getan, als diese sogenannte Spezielle Militärische Operation begonnen hat. Sie schweigen, weil sie Angst vor Putin haben.« Das »Nie wieder!« habe allen Inhalt verloren.

»Es stört jetzt einfach niemanden mehr, dass es wieder passieren kann«, sagt Shvartsman. Und genau das, diese Ignoranz, diese Gleichgültigkeit, das sei etwas, das er kaum ertrage. »Ich flehe euch an, als alter Mensch. Ich flehe euch einfach an!« Denn diese Gleichgültigkeit sei es, die erst dazu geführt habe, dass Putin heute vor niemandem mehr Angst hat. Diese Gleichgültigkeit habe ihn erst ermutigt. Russland schiele bereits auf Polen. Shvartsman fährt auf: »Faschismus, Hitlerismus und Putinismus, Russismus« seien wie Brüder. »Und ich weiß nicht, wer schlimmer ist.«

»Nacht wird zu Tag. Tag wird zu Nacht. Ein Bleistift ist ein Gewehr. Ein Telefon ist ein Panzer.«

Shvartsman wird wütend, wenn er über Russland spricht, nennt es ein »bösartiges Imperium«, ein »faschistisches« Land, dessen Führung alles verdrehe: »Nacht wird zu Tag. Tag wird zu Nacht. Ein Bleistift ist ein Gewehr. Ein Telefon ist ein Panzer. Ich verstehe überhaupt nicht, wie man mit ihnen kommunizieren kann, warum die Welt sie anerkennt.«

Es gehe Russland um die »vorsätzliche Vernichtung von Menschen, von Zivilis­ten«. Er spreche nicht von Soldaten, braust Shvartsman auf und schildert grausame Details, Vergewaltigungen und Gewalt gegen Kinder, Folter. »Ganze Städte und Dörfer werden flachgebombt, das Stromnetz wird gezielt beschossen.« Für ihn sei Putins Vorgehen »ein Genozid«. Ein Stück dessen, was Putin tue, sei Völkermord, sagt er. »Und für all das andere muss man erst ein neues Wort erfinden.«

Am 29. Januar spricht Shvartsman anlässlich der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag.

New York/Washington D.C.

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