Der Gegensatz könnte kaum größer sein: Was der Direktor der Anti-Defamation League in Colorado, Scott Levin, als »eine der heiligsten Obligationen der Juden« bezeichnet, wird von Matthew Hess, dem Präsidenten der Bürgerinitiative gegen »Männliche Genitalverstümmelung« (MGMBill) als »Mißachtung der Menschenrechte« an den Pranger gestellt.
Seit Jahren schon schwelt in den USA die Debatte um die Vorhautbeschneidung bei männlichen Babys. Doch jüngst hat sie an Schärfe zugenommen, seit Beschneidungsgegner in San Francisco über 7.100 Unterschriften gesammelt haben, um dies im kommenden November per Volksabstimmung unter Strafe stellen zu lassen.
Geht es nach der MGMBill, wird Zirkumzision bei Jungen unter 18 Jahren in San Francisco künftig mit Geldbußen bis zu 1.000 US-Dollar (umgerechnet rund 700 Euro) und Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr geahndet. Für religiös oder kulturell motivierte Beschneidungen soll es keine Ausnahmen geben: »Ich bin der Meinung, dass sämtliche unfreiwilligen Genitalbeschneidungen unter das gleiche Gesetz fallen müssen«, sagt Matthew Hess, einer der Initiatoren des Volksentscheids.
»Das Resultat ist doch immer ein unnötig entstelltes Kind.« Für einen Großteil der US-amerikanischen Juden hingegen ist die Beschneidung ein selbstverständlicher Akt, der das männliche Kind als Mitglied der Gemeinschaft kennzeichnet.
indikation Rund 75 Prozent aller Männer in den USA sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation beschnitten, im Vergleich zu etwa 30 Prozent in Kanada, nur sechs Prozent in Großbritannien und – vom Verein Eurocirc geschätzten – 15 Prozent in Deutschland, hier überwiegend Türken oder nach medizinischer Indikation. Warum gerade in den USA die Beschneidung von Babys fast zur Norm geworden ist, ist nur schwer nachzuvollziehen. Beschneidungen durch einen Mohel machen dort allerdings weniger als ein Prozent aus.
Auch die Vereinigung amerikanischer Kinderärzte AAP und die Seuchenschutzbehörde CDC raten weder zu noch ab. Doch im puritanisch geprägten Amerika des 19. Jahrhunderts galt dies als beste Maßnahme gegen die Verbreitung von Seuchen – und um Jungen vom Masturbieren abzuhalten. Heutzutage wird meist »Sauberkeit« als Grund für die Routine-Operation nach der Geburt genannt.
Die jüngsten Zahlen belegen allerdings eine Trendwende. Wurden 2006 noch 56 Prozent aller männlichen Neugeborenen in den Vereinigten Staaten beschnitten, so waren es 2009 nur noch knapp 33 Prozent. Das liegt zum einen am wachsenden Bevölkerungsanteil aus Mittel- und Südamerika, zum anderen an generell zunehmender Skepsis von Eltern bezüglich Routineimpfungen und -eingriffen, analysierte jüngst die New York Times.
Kosten Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch der Kostenfaktor: Seit 1999 begannen Medicaid-Programme (kostenlose Krankenversicherung für Ärmere) in einigen Bundesstaaten, den Eingriff nicht mehr zu bezahlen. Daraufhin fiel die Zirkumzisionsrate dort um 24 Prozent. Zudem versucht seit einigen Jahren die Vereinigung »Intactamerica«, Ärzte davon zu überzeugen, den Eingriff nicht mehr aktiv zu vermarkten.
Das Volksbegehren sei »der direkteste Angriff auf die Ausübung der jüdischen Religion in den USA«, kommentiert Marc Stern, ein Rechtsanwalt für das American Jewish Committee. »So etwas hat es bisher noch nicht gegeben.« Dementsprechend zieht nun eine ungewöhnliche Koalition von jüdischen und muslimischen Gruppen in San Francisco vor Gericht, um die Initiative wieder von den Stimmzetteln zu entfernen. Ihr Argument: Nur Bundesstaaten – aber keine Städte – können medizinische Eingriffe regeln.
Damit sei das Begehren illegal. »Es verschwendet nicht nur Zeit, Energie und Geld, sondern widerspricht auch den Prinzipien von Elternrecht und Religionsfreiheit«, meint die Sprecherin der Anti-Defamation League (ADL) in San Francisco, Nancy Appel.
Mitten in diese angespannte Atmosphäre platzte der »Vorhaut-Mann«, ein im Internet verbreiteter Comic von Matthew Hess (vgl. Jüdische Allgemeine vom 16. Juni). Der Präsident der Bürgerinitiative MGMBill, die hinter dem Volksbegehren steht, zeichnete unter dem Titel »Monster Mohel« die Geschichte eines blutrünstigen jüdischen Beschneidungsspezialisten, der nur vom Superman-ähnlichen, blonden und blauäugigen »Vorhaut-Mann« gestoppt werden kann.
angriffe Viele jüdische Organisationen wehren sich gegen die Angriffe. Die »grotesken, antisemitischen Bilder« seien »respektlos und zutiefst beleidigend«, sagt ADL-Sprecherin Nancy Appel. Auch der oberste Staatsanwalt von San Francisco, der üblicherweise keine Kommentare zu laufenden Gerichtsverfahren oder Gesetzesinitiativen abgibt, kritisierte die »an Nazi-Propaganda erinnernden Bilder«.
Und selbst Hess-Mitstreiter wie Georgeanne Chapin, Direktorin der »Intact America«-Initiative, sind nicht gerade glücklich über die erzielte Medienaufmerksamkeit. »Aus politischer Perspektive wünschte ich mir, dass er die Comics nicht veröffentlicht hätte.«
Ob die Volksabstimmung zur Beschneidung in San Francisco letztendlich zugelassen wird oder nicht, wird in den kommenden Wochen gerichtlich entschieden. Doch so oder so wird das Thema längst nicht vom Tisch sein: Matthew Hess, der nach eigenem Bekunden an fehlender Sensitivität an seinem routinemäßig beschnittenen Penis leidet, hat entsprechende Gesetzesvorschläge für 46 Bundesstaaten vorbereitet, bisher allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Und auch in der Stadt Santa Monica bei Los Angeles gibt es Bestrebungen, im November 2012 ein ähnliches Volksbegehren auf die Wahlzettel zu bringen.