In den vergangenen 30 Jahren haben die Ukrainer viel getan, um den Staatsmann und Schriftsteller Wolodymyr Wynnytschenko (1880–1951) zu widerlegen. Er hatte einst gesagt, dass »die Geschichte der Ukraine nicht ohne Brom gelesen werden kann«. Doch die Bemühungen, die Erinnerungskultur in einer posttotalitären und geteilten Gesellschaft neu zu gestalten, wurden durch einen neuen Krieg brutal unterbrochen.
»Der 24. Februar hat eine scharfe Grenze gezogen: Unsere Situation hat sich seitdem auf mehreren Ebenen verändert«, sagt Taras Grytsiuk. Der Historiker ist Aktivist des Projekts »Connecting Memory«, das die Aktivitäten von fast 40 lokalen Gruppen koordiniert, die sich mit der Erinnerung an den Holocaust und der Geschichte der ukrainischen Juden beschäftigen.
BILDUNGSPROGRAMME Seit Kriegsbeginn kümmern sich diese Gruppen, die sich zuvor in Bildungsprogrammen, Museen und Gedenkstätten engagiert hatten, um humanitäre Hilfe: Sie bieten Unterkünfte an, kochen Essen, helfen beim Transport und bei der Suche nach Unterstützung für die Bedürftigen.
Ihrer bisherigen Arbeit können sie sich aufgrund der Gefahrenlage nicht widmen. In der nordöstlichen Stadt Ochtyrka zerstörte eine russische Bombe das örtliche historische Museum fast vollständig. Dort gab es eine den Opfern des Holocaust gewidmete Ausstellung mit dem Titel »Die Erinnerung bewahren«.
In Tschernihiw bombardierten russische Flugzeuge am zweiten Tag des Krieges das Archiv des ukrainischen Sicherheitsdienstes, das einzigartige Zeugnisse aus dem Zweiten Weltkrieg und Dokumente über die Verbrechen des Holocaust enthielt. In Huliaipole, einer kleinen Stadt zwischen Saporischschja und Mariupol, wurde ein altes Synagogengebäude, in dem sich seit Jahren ein Krankenhaus befindet, bombardiert. Die dort von Aktivisten errichtete Trauerwand mit den auf Ziegelsteinen geschriebenen Namen der Holocaust-Opfer blieb glücklicherweise erhalten.
GRABSTÄTTEN »Connecting Memory« hat mittlerweile auch keinen Zugang mehr zu den Grabstätten des Holocaust, die sie erkundete und um deren Erhalt sie sich bislang gekümmert hat. In der Ukraine gibt es rund 2000 solcher Stätten, viele von ihnen sind derzeit aufgrund russischer Besetzung oder Aktivitäten der ukrainischen Armee unzugänglich.
Der Historiker Taras erklärt, es sei zudem schwierig, sich selbst davon zu überzeugen, dass die historische Arbeit und das Gedenken auch während eines andauernden Krieges Priorität haben. Massenerschießungen, Sammelbestattungen, Bombardierungen von Städten und sogenannte Filtrationslager, in denen man befreite Kriegsgefangene überprüft, sind in der Ukraine wieder Teil der Gegenwart.
Einige Juden, die mit dem Projekt »Connecting Memory« zusammenarbeiten, haben Städte wie Druschkiwka, Lutsk, Berditschew und Winnyzja aus Angst um ihr Leben verlassen. Es ist ungewiss, ob und, wenn ja, wann sie zurückkehren werden. »Wir setzen uns jetzt deshalb vor allem dafür ein, dass die Aktivisten der Erinnerungskultur überleben und nach dem Krieg ihre Arbeit wiederaufnehmen können, zumal einige von ihnen in russisch besetzten Gebieten wohnen«, sagt Taras.
supervisionsrunden Seit dem ersten Kriegstag bietet die Organisation Gespräche mit einem Psychotherapeuten an und hält Supervisionsrunden für ihre Mitglieder ab. Einige Überlebende des Zweiten Weltkriegs, die mit der Organisation zusammenarbeiten – meist ältere Menschen, die nicht mehr aus dem Land fliehen konnten –, erhielten dank deutscher Partner materielle Unterstützung.
Ihrer bisherigen Arbeit können sich die Aktivisten wegen der Gefahrenlage nicht widmen.
Schon jetzt ist klar, dass es kein Zurück in die Vorkriegszeit gibt, auch nicht im Bereich des Gedenkens. Taras erklärt, dass die russische Propaganda, die sich auf Slogans und Stereotypen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs beruft, paradoxerweise die Notwendigkeit geschaffen hat, die Erinnerung an die Schoa und den Krieg vor 80 Jahren zu erneuern.
Die Ukrainer waren schon immer geteilter Meinung darüber, wie sie die 30er- bis 50er-Jahre sehen, als die totalitären Regime ihr Land in »Blutland« verwandelten. Die Verwirrung der Begriffe hat nun dazu geführt, dass sowohl Russen als auch Ukrainer ihre Gegner als »Nazis« bezeichnen.
völkermord In der Ukraine ist oft zu hören, dass es sich bei dem, was derzeit dort geschieht, um einen Völkermord handelt, der mit dem Holocaust oder dem Holodomor, dem sowjetischen Töten durch Hunger als Waffe, gegen die Ukraine 1932/33 vergleichbar ist.
Taras zufolge gibt es immer noch keine neue Sprache, um den gegenwärtigen Krieg und das damit verbundene Leid zu beschreiben, sodass man auf historische Analogien verweist, ohne der Vergangenheit immer gerecht zu werden. »Connecting Memory« hat deshalb damit begonnen, die entstehenden Diskurse über den aktuellen Krieg zu untersuchen, um zu verstehen, wie sie mit der Vergangenheit verwoben sind.
Im Moment ist noch nichts entschieden. Ein Blick auf die Landkarte der Ukraine, eines Landes des 21. Jahrhunderts, durch dessen Territorium sich eine feindliche Front bewegt, reicht aus, um zu verstehen, dass neue Teilungen die alten überlagern. Es gibt besetzte und unbesetzte Gebiete. Orte, die niedergebrannt sind, und solche, die relativ sicher sind. Und es gibt bereits eine Generation, die in den von Russland kontrollierten Teilen des Donbass und der besetzten Krim aufgewachsen ist.
»Heute haben wir keine Garantie dafür, dass die Ukraine und die ukrainische Erinnerungskultur nach dem Krieg demokratischer, integrativer und multikultureller werden, wie wir hoffen«, sagt Taras.
Die Zukunft des Geschichtsbewusstseins hängt von der Stärke der Zivilgesellschaft ab, die ihren Kampf verlieren kann, wenn sie alleingelassen wird. Es wäre nicht das erste Mal in der unruhigen Geschichte des Landes.