Man schreibt das Jahr 1996. Vor allem Historiker im Ausland nehmen die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg unter die Lupe. Auslöser ist die Kritik vonseiten des Jüdischen Weltkongresses. Es geht um die Rolle der Banken im Umgang mit Schoa-Opfern, bald aber auch darum, wie sich der neutrale Kleinstaat gegenüber Flüchtlingen verhalten hat. In diesem Zusammenhang wird auf einmal auch die Geschichte der Schweizer Juden wichtig – sehr wichtig sogar.
In jenes Jahr 1996 fällt auch die Gründung der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte (auch Archiv für Zeitgeschichte genannt) an der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Zürich (ETH). Das mag Zufall sein, doch es gibt durchaus einen direkten Zusammenhang zum neuen Interesse an der Geschichte der jüdischen Schweiz. Denn die neue Dokumentationsstelle sammelt und erforscht systematisch Unterlagen und Archive von Privatpersonen, aber auch von Vereinen und Gemeinden zur jüdischen Geschichte.
Geschichtsforschung Natürlich gab es in der Schweiz schon vorher entsprechende Forschungen, aber gerade im beginnenden digitalen Zeitalter ist die Bewahrung und Archivierung zeitgeschichtlicher Dokumente besonders wichtig. »Nicht zu vergessen sind auch die Archive des Verbandes Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) sowie des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), die wir systematisch auswerten«, erklärt der Historiker Uriel Gast. Als Gründer und Leiter der Dokumentationsstelle ist er so etwas wie der Vater einer neueren jüdischen Geschichtsforschung in der Schweiz.
Die Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte gehört zum Archiv für Zeitgeschichte, das bereits seit 1966 existiert und von dem Zürcher Historiker Klaus Urner gegründet wurde. Die ersten Dokumente waren lediglich Zeitungssauschnitte, die man in Kisten in zwei Mansarden unterbrachte.
Heute verfügt das Archiv über insgesamt 600 Bestände, davon ein Drittel zur jüdischen Zeitgeschichte. Es gibt darunter auch Schätze wie Dokumente aus dem Privatarchiv von Avner Less, der 1960/61 in Jerusalem die Verhöre Adolf Eichmanns leitete.
Holocaust Memorial Museum Durch die Zusammenarbeit mit anderen Archiven, zum Beispiel dem amerikanischen Holocaust Memorial Museum in Washington, konnten die Zürcher auch zeitgeschichtliche Dokumente digitalisieren und ihren Bestand erweitern. »Nicht zu vergessen sind die 5000 Fotos, alle aus Privatbesitz, die in einem Online-Bildarchiv das jüdische Leben in der Schweiz dokumentieren«, sagt Uriel Gast. Er und seine Mitarbeiter hatten dafür über Monate hinweg private jüdische Haushalte in der ganzen Schweiz aufgerufen.
Bei einer Jubiläumsveranstaltung an der ETH verabschiedete sich Uriel Gast vergangenen Donnerstag. Er geht demnächst in den Ruhestand. Seine Nachfolgerin wird die Basler Historikerin Sabine Bossert. Sie stellt zurzeit ihre Dissertation über David Frankfurter fertig, den Mann, der 1936 in Davos den NSDAP-Landesgruppenleiter in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, erschoss. Dabei soll sie auf neue Erkenntnisse gestoßen sein – eine gute Voraussetzung für ihre Aufgabe in Zürich.