Flaggen so weit das Auge reicht. Es ist die Woche des politischsten Eurovision Song Contest (ESC) aller Zeiten, kurz vor dem Finale, und in Malmö herrschen zwei Dresscodes: Da sind zum einen die Eurovision-Fans, gekleidet in Glitzer, in den Straßen tragen sie die Flaggen ihrer Länder um die Schultern. Großbritannien, Deutschland, Schweiz – stolze Finalisten. Nur die Fahne eines einzigen Finalisten flattert nicht durch den Wind in der Hafenstadt: die von Israel.
Wenn man genau hinschaut, erkennt man sie doch, auf kleinen Stickern an Laternenpfählen und Bushaltestellen. Dort steht dann aber: »Boycott Israel«. Dafür weht die palästinensische Flagge von Balkonen und Fenstern. In der Stadt genauso präsent wie – Dresscode Nummer zwei – das Palästinensertuch, die Kufiya.
Kufiya als Uniform
Das hängt über den Schultern junger Schwedinnen und Schweden, auch viele ältere Imbissbetreiber in Malmö tragen es – und Tausende Demonstranten, die Tag für Tag durch die Straßen ziehen. Viele sind extra in Bussen angereist, angeführt von der Aktivistin Greta Thunberg. Wie eine Uniform wirkt das Tuch dieser Tage in Malmö, man nickt einander zu, will die politische Einstellung dringend sichtbar machen. An fast jedem Café zieht im Halbstundentakt ein größerer oder kleinerer Protestzug vorbei. Gäste klopfen dann mit ihren Händen auf die Tische, im Takt der Trommelschläge. Wer hier die Mehrheit repräsentiert, im Konflikt um Israel und die palästinensischen Gebiete, daran lässt Malmö keinen Zweifel.
Yair Elsner wuchs in Malmö auf, zog später nach Israel und kehrte vor zwei Jahren wieder zurück. Er sagt: »Wenn ich aus der Tür gehe, sehe ich Sprüche und Plakate an den Wänden, die mich direkt bedrohen. Das ist ein gruseliges Gefühl.«
Seit dem 7. Oktober hat sich in Schweden die Zahl der antisemitischen Angriffe verfünffacht.
Dabei zeichnete sich lange ab, dass jüdisches Leben in Malmö und teils auch anderen schwedischen Städten immer mehr zur Mutprobe wird. Elsner erzählt von Universitätstagen, als er, wie viele junge Studierende, mit kommunistischen Gruppen in Kontakt kam. »Ich fand das spannend und wollte Teil werden«, sagt er. »Aber da merkte ich zum ersten Mal: Die lassen mich nicht. Ich bin als Jude, der seine Identität und auch Israel kennenlernen will, nicht willkommen.«
Das sei einer der Gründe gewesen, weshalb der heute 45-Jährige damals auf die Idee kam, selbst in den jüdischen Staat zu ziehen. Und für 20 Jahre dort blieb. »Die Leute, die ich hier heute auf den Straßen sehe, erinnern mich oft an meine alte kommunistische Uni-Gruppe«, sagt er. »Bei arabischen Demonstranten kann ich wenigstens grundlegend die Beweggründe verstehen, warum sie persönlich Palästina-Parolen rufen, aber für viele andere schwedischen Leute ist das wie ein Kult, bei dem sie jetzt einfach mitmachen, ohne zu wissen, was sie damit bei uns anrichten.«
Zahl der antisemitischen Angriffe verfünffacht
Schon seit Jahren schrumpft die jüdische Gemeinde in Schwedens drittgrößter Stadt. Am 7. Oktober feierte man mit Autokorsos die Hamas, zündete Israel-Flaggen an. Mehr als die Hälfte der Einwohner hat einen Migrationshintergrund, viele von ihnen einen palästinensischen. Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich in ganz Schweden die Zahl der antisemitischen Angriffe verfünffacht.
In Malmö gab es schon in den Jahren 2009 und 2010 derart viele Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen, dass die Stadt sich gezwungen sah, den Ruf der modernen Metropole wiederherzustellen: Man setzte eine Antisemitismusbeauftragte ein. Es gab eine gemeinsame Aktion der muslimischen und der jüdischen Gemeinde. Doch es ging weiter: Schläge auf Rabbiner auf dem Weg zur Synagoge, ein Bürgermeister, der sich immer wieder judenfeindlich äußerte.
Der ESC war für den wiederaufflammenden Antisemitismus in der Stadt nur ein Brandbeschleuniger. Massendemonstrationen, Aufrufe, Israel zu boykottieren und von der Landkarte zu streichen. Und so versteckt auch Anwohnerin Yael Sages Wahlström in der ESC-Woche zum ersten Mal in ihrem Leben die Kette mit dem Davidstern unterm Kragen.
Es ist Donnerstagabend, als sie gemeinsam mit 200 Menschen in Malmö auf der Straße tanzt und singt, zum Song der israelischen ESC-Teilnehmerin Eden Golan. Die 47-jährige Wahlström fühlt sich frei, sie traut sich nach monatelanger Anspannung, einmal wieder offen jüdisch zu sein, so erzählt sie es später. Doch sie sagt: »Wir wussten, ohne die Polizei wäre das nicht möglich.« Deshalb versteckt Yael Sages Wahlström auf dem Hin- und Heimweg mit dem Davidstern das einzige Merkmal, das sie als Jüdin erkennbar macht.
Manche jüdische Familien haben während des ESC die Stadt verlassen.
Sie sagt: »Einige meiner befreundeten jüdischen Familien sind die ganze ESC-Woche in eine andere Stadt gezogen. Manche sogar nach Dänemark.« In Malmö zu bleiben, sei einfach zu gefährlich. Ihre 13-jährige Tochter lässt Sages Wahlström nicht mit zur Demonstration kommen. Die habe sich heute von ihr unter Tränen verabschiedet, erzählt sie.
In den letzten Monaten häuften sich auch Übergriffe unter Jugendlichen. Yael Sages Wahlström erzählt: »In der Schule hat ein muslimischer Mitschüler meine Tochter neulich als ›Hitlers Assistentin‹ beleidigt, weil sie offen jüdisch ist. Ich habe ihr jetzt verboten, einen Israel-Pin an der Jacke zu tragen.«
Auch ihre Familie in Israel habe angerufen, aus Angst um sie. »Leute in Israel – einem Land im Krieg – haben mehr Angst um mich in Schweden als um sich selbst.« Wahlström und ihre Familie hätten selbst schon überlegt, nach Israel zu gehen. »Hätten wir eine Arbeit, die wir auch von dort aus machen könnten, würden wir wahrscheinlich hinziehen.«
»Unser Herz ist gefangen in Gaza«
Am selben Abend, als Sages Wahlström mit 200 Leuten in Malmö für Israel demonstrierte, waren auf der palästinensischen Demonstration 12.000 Menschen. Die schwedische Polizei hat für die gesamte ESC-Woche Beamte aus Norwegen und Dänemark angefordert, jede einzelne Sicherheitskraft wird gebraucht.
Yair Elsner sagt, er verstehe jeden, der sich als Jude in Malmö bedroht fühle und nach Israel ziehen möchte. Aber er selbst will nun umso mehr bleiben. Er trägt die silberne Soldaten-Marke um den Hals, die in Israel auf den Straßen so häufig zu sehen ist wie das Palästinensertuch derzeit in Malmö. »Unser Herz ist gefangen in Gaza«, steht auf Hebräisch darauf geschrieben. Sie erinnert an die verbleibenden Geiseln der Hamas im Gazastreifen. Elsner läuft über den Platz in Malmö, der von Demonstranten »Gaza-Rondell« genannt wird. Graffiti-besprühte Wände, mit Sprüchen wie »Intifada Revolution« und »From the River to the Sea, Palestine will be free«.
Reihen von Polizisten bewachen den Platz. Elsner sagt wie auch andere jüdische Bewohner in Malmö: »Die Polizei beschützt uns wirklich gut.« Auch auf dem »Gaza-Rondell« stehen etliche Dialog-Polizisten, wie ihre Westen verraten. In Schweden der Standard auf Demonstrationen, sind sie extra dafür geschult, Fragen zu beantworten, die Masse zu beruhigen und so Ausschreitungen zu verhindern. Einer von ihnen kommt zu Elsner, klopft ihm auf die Schulter. Der Polizist war auch auf der kleinen Pro-Israel-Demonstration, die Elsner mitorganisierte. »Wie gehtʼs?«, fragt der Polizist. Elsner zeigt auf seine Kette. »Meinen Sie, es ist gefährlich, wenn ich die hier trage?«, fragt er. Der Polizist zögert. »Viele wissen wahrscheinlich gar nicht, was das bedeutet und dass das Hebräisch ist«, antwortet er dann. »Sollte in Ordnung sein.« Ansonsten seien er und seine Kollegen zur Stelle.
Elsner sagt, auf seiner kleinen Demonstration für Israel war ihm vor allem auch eines wichtig: schwedische Flaggen zu tragen. »Wir sind Teil von Schweden, wir wollen das Land und seine Kultur nicht verändern.« Dann zeigt er auf die Demonstranten um sich herum. »Keine schwedische Flagge in Sicht. Ich finde, das sagt einiges aus.«
Am Abend des Finales dann strömen Tausende ESC-Fans in die Malmö-Arena. Sie schieben sich durch die Palästinenser-Demonstrationen. Griechische Flaggen neben deutschen, armenische neben israelischen. »Ich liebe euren Song«, rufen die einen den anderen hinterher, »ich vote für euch«. In der Arena selbst packen einige Fans ihre Israel-Flaggen aus. Der Abend verläuft, wie es viele von ihnen befürchtet haben.
Buhrufe und Pfiffe, jedes Mal, wenn Israel erwähnt wird, Eden Golan die Bühne betritt oder der Song »Hurricane« eingespielt wird. Jubelschreie übertönen das anfangs noch, einige Fans wehren sich demonstrativ gegen jene, die den ESC »mit Politik verderben wollen«, so hört man es. Doch die Pfiffe werden teilweise so laut, dass man in der Halle bei der Punktevergabe der israelischen Jury kein Wort mehr versteht.
»Eden war großartig«
Golan bricht nach ihrem Auftritt in Tränen aus. Später bekommt sie die zweitmeisten Zuschauerstimmen des ganzen Wettbewerbs. Verrechnet mit den Jury-Wertungen landet sie auf Platz fünf, die Schweiz gewinnt. Einige Fans zeigen sich nach dem Finale enttäuscht davon, wie sehr die Politik den Abend überschattete.
So auch der Niederländer Harm Slor, aufgeklebte Glitzerwimpern, orangefarbenes Pailletten-Top. »Mich regen Leute auf, die hier die Stimmung verderben und die junge israelische Künstlerin ausbuhen. Die machen die Idee der Eurovision kaputt, die Liebe, den familiären Zusammenhalt.« Er klopft zwei israelischen Fans auf die Schultern, »Eden war großartig«, sagt er.
Buhrufe und Pfiffe, jedes Mal, wenn Israel erwähnt wird.
Adam und Almog, langjährige ESC-Fans, haben kurz vor dem Abflug aus Tel Aviv noch überlegt, ob es ihnen dieses Jahr nicht zu gefährlich sei, so erzählen sie. Und entschieden sich dann doch dafür. »Um uns herum saßen gerade Fans aus Irland, die bei jeder Erwähnung Israels losgepfiffen haben«, so Adam. Die deutschen Fans nebenan hingegen waren »unsere Freunde«. In den Straßen Malmös hätten sie niemandem von ihrer Nationalität erzählt. »Wir haben uns Hintergrundstorys über andere Herkunftsländer ausgedacht, seit wir in Malmö sind. England, USA. In jedem Café wird man ja gefragt, woher man komme. Hier weiß man nie, wie sie auf die Antwort ›Israel‹ reagieren würden.«
Almog trägt am Abend des Finales ein T-Shirt mit der Aufschrift »Israel«. Das ginge nur innerhalb der Arena, umgeben von ESC-Fans. Aber sie wolle jetzt nicht politisch werden, sagt sie, dafür sei sie nicht zum ESC gekommen. Palästina-Rufe dringen durch die Glastüren. Almog zieht sich einen Pullover über ihr T-Shirt.
Die Autorin arbeitet für den Stern. Über einige Personen und Ereignisse in diesem Artikel wurde auch dort berichtet.