In Südafrika hat ein jahrelanger Streit zwischen orthodoxen und liberalen Juden seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Zankapfel: ein Singverbot für Frauen bei der alljährlichen Gedenkfeier für die Opfer der Schoa. Weil die jüdische Gemeinde keine Lösung fand, soll nun ein Gericht entscheiden.
Handelt es sich um Respekt gegenüber religiösen Riten oder um blanke Diskriminierung? Beide Argumente wird das südafrikanische Gleichstellungsgericht bei der Verhandlung am 22. August zu hören bekommen. Der sogenannte Equality Court, der sich mit religiöser, kultureller und geschlechtlicher Gleichstellung beschäftigt, wird ein Urteil fällen, das Südafrikas jüdische Gemeinde nachhaltig prägen wird. Beobachter sprechen von einem Präzedenzfall.
Diskriminierung Angestoßen haben die Klage zwei Juden aus Kapstadt. Nachdem das Jewish Board of Deputies (BoD) als Veranstalter auch dieses Jahr verboten hatte, dass bei der offiziellen Gedenkfeier an Jom Haschoa Frauen singen, sahen sie »Diskriminierung aufgrund des Geschlechts« – und verklagten daraufhin die jüdische Dachorganisation.
»Hier geht es um fundamentale Menschenrechte. Es geht um den Wert von Frauen – sie sind gleich«, betont eine der beiden Kläger, Sarah Goldstein. Ihre Mutter, Daisy Goldstein, entkam der Judenverfolgung in Europa und floh nach Südafrika. Auch die 90-Jährige zeigt sich entrüstet über das Singverbot: »Im Holocaust starben genauso viele Frauen wie Männer. Und sie litten genauso wie Männer. Weshalb sollten sie nicht singen dürfen?«
Im April hatte die Überlebende angekündigt, die Gedenkveranstaltung am Jom Haschoa nicht besuchen zu wollen, falls Frauen wieder von der Bühne verbannt bleiben sollten. Die Kläger hatten gehofft, das Gericht würde das Verbot rechtzeitig vor der Gedenkfeier kippen. Doch die Mühlen der Justiz mahlten zu langsam: Am 5. Mai besuchten mehr als 12.000 Kapstädter Juden den jüdischen Friedhof Pinelands, um der im Holocaust Ermordeten zu gedenken. Die Lieder von Frauen blieben verbannt.
Halacha Das Verbot gründet in alten religiösen Gesetzen: »Die singende Stimme einer Frau gilt laut der Halacha als ebenso privat wie ihr entblößter Körper, weshalb das jüdische Gesetz sie für private Anlässe mit ihrem Mann oder in der Anwesenheit anderer Frauen vorbehält«, sagt Südafrikas Oberrabbiner Warren Goldstein. Er verließ bei der Jom-Haschoa-Gedenkzeremonie 2005 die Bühne, als eine Schülerin zu singen begann. Den Vorfall nahmen die Verantwortlichen zum Anlass, Frauen künftig nicht mehr öffentlich singen zu lassen.
»Es ist unvereinbar mit einer weltlichen Zeremonie, die der Opfer des Holocaust, der Opfer von Diskriminierung gedenkt, jenen nachzugeben, die Frauen als weniger wert erachten«, sagt der zweite Kläger Gilad Stern. Auch das Südafrikanische Zentrum für religiöse Gleichberechtigung und Vielfalt findet, die Veranstalter hätten gegen ihre eigenen Prinzipien verstoßen, als sie Frauen vom Gedenken an ein Ereignis ausschlossen, »das für alle Zeit als Warnung gegen die Gefahren von Diskriminierung steht«.
Die Organisation beteiligte sich später an der Klage. »Es handelt sich hier nicht um eine religiöse Veranstaltung«, meint die Vorsitzende Julia Margolis. Die jüdische Aktivistin erinnert daran, dass während der Gedenkfeier nur zwei Gebete gesprochen würden – »ansonsten ist Jom Haschoa eine rein weltliche Zeremonie«. Margolis ist Südafrikas erste Rabbinerin und saß bis vor Kurzem als Vertreterin des liberalen Judentums ebenfalls im Jewish Board of Deputies. Nachdem sie die Klage gegen die jüdische Dachorganisation unterstützt hatte, wurde sie vorübergehend beurlaubt.
Die jüdische Dachorganisation gibt sich vor dem Prozess sehr offen. Sie versuche, inklusiv zu sein, und erinnert daran, dass Frauen aktive Führungspositionen innehätten und in diesen Positionen auch die Jom-Haschoa-Gedenkzeremonie mit organisiert hätten.
Daniel Levitt, der Direktor der Kapstädter Filiale des Board of Deputies, bringt das Problem auf den Punkt: »Wir müssen die Geschlechtergleichheit hochhalten und zugleich den orthodoxen Juden ein Forum bieten.«
BoD-Chef Eric Marx ergänzt, man sei sich der gemischten Natur der jüdischen Gemeinde durchaus bewusst. Doch hielten die orthodoxen Rabbiner einheitlich an dem Singverbot fest. Sie würden durch singende Frauen von der Gedenkfeier ausgeschlossen.
Disput Laut einer Umfrage von Religionswissenschaftlern der Universität Kapstadt bezeichnen sich 80 Prozent der südafrikanischen Juden als orthodox, sieben Prozent als liberal und 13 Prozent als säkular. Ein Teil der jüdischen Gemeinde versteht den aktuellen Rechtsstreit jedoch nicht als Disput zwischen Orthodoxie und Reformjudentum. Denn auch die beiden Kläger Stern und Goldberg fühlen sich trotz ihrer liberalen Einstellung dem orthodoxen Judentum nahe. Viel eher untermauere der Prozess einen Kampf zwischen Tradition und Moderne, zwischen Glaube und Verfassung, zwischen religiösen und weltlichen Gesetzen.
»Das Holocaustgedenken ist eine säkulare Veranstaltung. Das Board of Deputies hat keinen Grund, es zu einer religiösen zu machen. Die Nazis hat es nicht interessiert, ob du eine Frau oder ein Mann warst«, sagt eine Kapstädter Jüdin. In der Online-Ausgabe der Zeitung »South African Jewish Report« kommentiert ein User namens »Rav Shalom«: Das Board of Deputies habe eine »diskriminierende Interpretation« jüdischer Gesetze herangezogen, anstatt die ganze Gemeinde zu berücksichtigen.
Ein anderer Leser kontert: Die Mehrheit der südafrikanischen Juden sei orthodox und befürworte die entsprechenden Gesetze. Erbost fragt er die Kläger: »Ist ein Gedenken an die jüdischen Opfer wirklich der richtige Zeitpunkt für politische oder feministische Statements?« Auch Oberrabbiner Goldstein verurteilt den Gang vor Gericht. »Von allen Dingen wird ausgerechnet der Holocaust zum Spaltungsgrund für unsere Gemeinschaft. Ein solches Bestreben überschreitet alle Grenzen.«
Die Zeitung Jewish Report sieht keine der beiden Streitparteien zu Kompromissen bereit. Während das Urteil des Gleichstellungsgerichts den Kurs für die kommenden Jahre vorgibt, werde die Diskussion so bald nicht abreißen. Chefredakteur Ant Katz: »Die Debatte um das Singverbot wird weitergehen – wir sind eben eine diverse Gemeinschaft.«