Herr Rabbiner, Anfang der Woche haben sich mehr als 200 Rabbiner aus ganz Europa in Toulouse getroffen. Warum gerade dort?
Toulouse ist der Ort, an dem vor drei Jahren die neue Welle islamistischen Terrors gegen die Juden in Europa begann. Zwar gab es schon vorher Angriffe gegen Juden, aber wir erleben hier eine neue Art des radikal-islamischen Terrorismus: Er begann in Toulouse und setzte sich dann in Brüssel, Paris und Kopenhagen fort. Mit unserem Besuch in Toulouse wollten wir die dortige jüdische Gemeinde stärken, die sich noch immer nicht von den Terroranschlägen erholt hat.
Was waren die Themen bei dem Treffen?
Wir haben über vieles diskutiert: über Erziehung und jüdisches Leben, über halachische Fragen und technische Neuerungen. Wir haben auch die Ozar-Hatorah-Schule besucht, vor der ein islamistischer Terrorist am 19. März 2012 einen Rabbiner und drei Kinder ermordete. Außerdem hatten wir eine Veranstaltung zur Erinnerung an das Ende des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren. Und wir haben der mehr als 250.000 jüdischen Soldaten in den alliierten Streitkräften gedacht, die im Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen.
In Prag kamen vor Kurzem etwa 100 Rabbiner zu einem Selbstverteidigungs-Workshop zusammen. Ist das nötig?
Ich denke, Rabbiner sollten mehr Sport treiben, das täte uns bestimmt gut – wir sitzen viel, sei es in der Synagoge oder am Schreibtisch. Allerdings sehe ich die Verantwortung für die Sicherheit der jüdischen Gemeinden bei den europäischen Regierungen und nicht bei den Rabbinern.
Können Rabbiner irgendetwas tun, damit sich Juden in Europa sicherer fühlen?
Manche Gemeindemitglieder fühlen sich seit den Terroranschlägen mehr als Juden, als sie das früher taten. Andere hingegen distanzieren sich aus Angst von der Gemeinde und kommen nicht mehr zu Veranstaltungen. Sie glauben, sicherer zu sein, wenn sie ihr Jüdischsein verbergen. Die Botschaft, die wir den Juden Europas vermitteln wollen, ist: Versteckt euer Jüdischsein nicht! Was wir zurzeit erleben, ist kein Kampf des radikalen Islam gegen die europäischen Juden, sondern ein Kampf gegen Europa und seine Werte. Alle konfessionellen Gruppen sollten zusammenarbeiten, um dieses Problem gemeinsam in den Griff zu bekommen.
Wie sind die Kontakte zwischen der Europäischen Rabbinerkonferenz und muslimischen Institutionen?
Wir haben gute Kontakte mit einigen Führungspersönlichkeiten des moderaten Islam in Europa, zum Beispiel in Frankreich, Deutschland und Italien. In mehreren Ländern gibt es gemeinsame Initiativen: Man denke nur an die Geste kurz nach den Anschlägen von Kopenhagen Mitte Februar, als in mehreren skandinavischen Städten um die Synagogen Menschenketten gebildet wurden. An diesen Projekten waren federführend Muslime beteiligt – das hatte es vorher nicht gegeben. Ich denke, dass der moderate Islam im Kampf gegen den islamistischen Terror unser natürlicher Verbündeter ist. Er leidet nicht weniger darunter als wir – und bei ihm steht sogar die Existenz auf dem Spiel.
Mit dem Oberrabbiner von Moskau und Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz sprach Tobias Kühn.