Herr Tähtinen, neben Tallinn ist in diesem Jahr auch Turku Kulturhauptstadt Europas. Sie sind da geboren. Was für eine Stadt ist Turku?
Mit rund 175.000 Einwohnern ist sie die fünftgrößte Stadt Finnlands. Jahrhundertelang war Turku Hauptstadt. Noch heute sitzt dort der evangelische Erzbischof des Landes, und es gibt einen großen Hafen.
Seit mehr als 20 Jahren leben Sie in Berlin. Worin unterscheidet sich die jüdische Gemeinde Turku von der in Berlin?
Es gibt dort nur etwa 120 Mitglieder. Die Gemeinde ist also rund hundert Mal kleiner als die Berliner. In der Öffentlichkeit ist das jüdische Leben kaum zu sehen. Es geht sehr familiär zu. Wir haben eine schöne alte Holzsynagoge, sie ist über 90 Jahre alt und nicht nur für die Gemeinde, sondern auch architektonisch sehr wertvoll.
Turku ist eine zweisprachige Stadt. Wie unterhält man sich in der Gemeinde?
Traditionell spricht die jüdische Gemeinschaft in Finnland Schwedisch. Aber jetzt gibt es auch finnischsprachige Mitglieder.
Wissen Sie, seit wann Juden in Turku leben und woher sie kamen?
Die meisten finnischen Juden sind Nachkommen russischer Soldaten. Finnland gehörte im 19. Jahrhundert zum Zarenreich. Alexander II. erlaubte den Soldaten, die aus dem Militärdienst ausschieden, dort wohnen zu bleiben, wo sie gedient hatten. So entstanden allmählich ein paar kleine jüdische Gemeinden. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen dann einige hundert weitere Juden nach Finnland. Sie waren vor der Revolution aus Russland geflohen. Eine Besonderheit der Gemeinden in Turku und Helsinki ist, dass sie die einzigen in Europa sind, die ohne Unterbrechung den osteuropäischen Ritus fortgeführt haben. Denn die Juden in Finnland wurden in den Jahren der Schoa fast nicht verfolgt. Das ist einzigartig.
Beteiligt sich die Gemeinde in Turku am Kulturhauptstadtprojekt?
Es gibt keinen offiziellen Kontakt zu den Organisatoren. Aber die finnisch-israelische Gesellschaft plant ein Klesmerkonzert. Das ist vermutlich die einzige Veranstaltung im Kulturhauptstadtprogramm, die mit dem Judentum zu tun hat. Aber natürlich sind alle jüdischen Besucher, die die Stadt besuchen, am Schabbat in der Synagoge willkommen.
Das Kulturhauptstadtjahr steht unter dem Motto »Turku in Flammen«. Was steckt dahinter?
Anfang des 19. Jahrhunderts brannte Turku größtenteils nieder. Die Stadt bestand aus Holzhäusern. Dieser Brand prägt Turku bis heute auf vielerlei Weise. Das haben die Organisatoren positiv als Thema genommen. Sie wollen sagen: Die Stadt ist voller Feuer. Es gibt viel Innovationsgeist, Kultur und Kreativität.
Was würden Sie einem Gast empfehlen, der sich für Turku drei Tage Zeit genommen hat?
Es gibt eine alte Burg, da kann man viel über die Geschichte der Region lernen. Und natürlich ist die Synagoge sehr interessant. Wunderschön ist auch die herrliche Schärenlandschaft unmittelbar vor der Stadt. Es ist, nach der Ägäis, das zweitgrößte Inselgebiet Europas. Man sollte also unbedingt einen Ausflug auf dem Wasser machen.
Haben Sie Sehnsucht nach Ihrer Geburtsstadt, oder sind Sie froh, in Berlin zu leben?
Ich bin gern in Berlin. Allerdings ist der Winter in den vergangenen Wochen auch hierher gekommen. Er verfolgt mich, wo ich doch keinen Schnee mag. Berlin ist eine schöne Stadt. Aber was ich hier vermisse, ist das dunkle finnische Brot und der skandinavische Hering. Die sind hier nirgends zu finden.
Aharon Tähtinen ist Mitglied der Repräsentantenversammlung und stellvertretendes Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Mit ihm sprach Tobias Kühn.