Herr Rabbiner, Länder wie Deutschland oder die Schweiz kennen die Institution eines Oberrabbiners nicht. Wozu braucht man so etwas?
Oberrabbiner zu sein bedeutet immer auch, ein Botschafter des jüdischen Volkes zu sein. Und das ist in unserer Zeit des zunehmenden Antisemitismus und der Isolierung des Staates Israel eine ganz wichtige Aufgabe. Ich denke, Gemeinden, die diese Institution nicht kennen, könnten vielleicht einige Probleme mehr haben. Allerdings muss ich klar sagen: Ich bin ein religiöser Vertreter. Und was Israel betrifft, bin nicht ich die erste Ansprechperson, sondern natürlich der israelische Botschafter.
Sie erwähnen den Antisemitismus. Ist er derzeit das Hauptproblem der jüdischen Gemeinschaft in Europa?
Ja, neben der Assimilation, der Mischehen-Problematik und einigen weiteren Themen ist er sicherlich eines der großen Probleme. Was mich stört, ist, dass Regierungen und Organisationen oft so tun, als ginge Judenhass nur Juden etwas an. Ich war sehr betroffen, als ich kürzlich an einer von der EU in Brüssel veranstalteten Konferenz zum Thema »Antisemitismus« feststellen musste, dass mehr als 90 Prozent der Teilnehmer jüdisch waren. Ich denke, Antisemitismus ist in Europa ein gesellschaftliches Problem, das auch von der Mehrheit entschlossen bekämpft werden muss. Das konnte ich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel plausibel machen, als ich sie kürzlich traf.
Und ebenso Ihrem Regierungschef David Cameron?
Sicher. Alle britischen Premierminister der vergangenen Jahre waren – und sind – in ihrem Kampf gegen Antisemitismus und Judenfeindschaft absolut kompromisslos und eindeutig. Ein Beispiel: Es ist vorbildlich, dass die englischen Schulen jedes Jahr Geld dafür ausgeben, dass Schüler und Lehrer nach Auschwitz fahren können. Fairerweise muss ich anfügen, dass der Regierungschef, der sich weltweit am eindeutigsten zu Israel und zum jüdischen Volk bekennt, der kanadische Ministerpräsident Stephen Harper ist. Aber Kanada gehört ja auch zum Commonwealth.
In Ihrem letzten Buch »Future Tense« (Zukunft) schreiben Sie, für die nichtjüdische Welt sei die Globalisierung etwas Neues, für Juden aber eigentlich seit Jahrtausenden eine Selbstverständlichkeit. Wie meinen Sie das?
Wenn man statt »Globalisierung« eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Geschichte und Kultur und natürlich vor allem die gemeinsame Religion der Jüdinnen und Juden einsetzt, dann erkennen Sie sicher, was ich damit meine.
Ist das vielleicht auch eine Erklärung dafür, dass Antisemitismus heute oft nicht nur in rechtsradikalen Kreisen zum Vorschein kommt, sondern – vielleicht unter einem antiimperialistischen Mäntelchen – immer mehr auch bei linken Globalisierungsgegnern?
Ja, ich denke schon. Soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen lösen immer auch Ängste aus – vor allem vor dem wirtschaftlichen Abstieg. Juden sind da oftmals Blitzableiter, auch wenn das rational eigentlich keinen Sinn macht.
Zum Schluss ein ganz anderes Thema: Sie sind als Lord auch Mitglied des britischen Oberhauses. Werden Sie im kommenden Frühjahr gemeinsam mit Ihrer Frau an den Hochzeitsfeierlichkeiten von Prince William und Kate Middleton teilnehmen?
Bis jetzt sind die Einladungen noch nicht verschickt worden. Aber wenn wir sie erhalten, werde ich Sie gern informieren. Immerhin findet die Hochzeit nicht an einem Schabbat statt. Das erhöht die Chancen, dass wir dabei sein werden.
Das Gespräch führte Peter Bollag.