Es ist Freitag, der 9. Januar 2015, kurz nach Mittag. Im Pariser Vorort Vincennes geht Claire Naturkrejt zum Hyper Cacher. Der koschere Supermarkt liegt direkt an der Innenstadtautobahn, dem »Boulevard péripherique«, ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Claire ist für diesen Abend bei älteren Freunden zu einem Schabbat-Essen eingeladen und will ihnen etwas Koscheres mitbringen.
Als sie zum Bezahlen an der Kasse steht, sieht sie plötzlich, wie ein Mann mit einer Kalaschnikow in den Laden rennt und brüllt: »Das ist ein Attentat!«. Geschockt wirft sich die damals 61-Jährige hinter einem Regal zu Boden. Sie versucht, das Geschehen einzuordnen.
Charlie Hébdo Paris befindet sich bereits im Terroralarm. Zwei Tage vorher, am 7. Januar, waren islamistische Terroristen in die Redaktionsräume des Satiremagazins »Charlie Hébdo« eingebrochen und hatten dort zwölf Menschen erschossen; elf weitere werden verletzt. Am darauffolgenden Tag hatte dann im nur wenige Kilometer von Vincennes entfernten Pariser Vorort Montrouge ein maskierter Mann die Polizeianwärterin Clarissa Jean-Philippe erschossen und einen Straßenarbeiter verletzt, der sich ihm in den Weg gestellt hatte.
Dem Attentäter von Montrouge gelingt die Flucht, aber die Polizei stellt rasch seine Identität fest. Es handelt sich um Amedy Coulibaly, Komplize der Charlie-Hébdo-Terroristen. Erst später wird bekannt, dass Coulibaly ursprünglich geplant hatte, in Montrouge eine jüdische Schule anzugreifen, seinen Plan dann aber kurzfristig geändert hatte.
Als sie zum Bezahlen an der Kasse steht, sieht sie plötzlich, wie ein Mann mit einer Kalaschnikow in den Laden rennt und brüllt: »Das ist ein Attentat!«
Im Hyper Cacher realisiert Claire schnell, dass da kein Verrückter in den Laden gelaufen ist. Die Gefahr ist real. Niemand weiß, ob der Angreifer vor dem Laden noch Komplizen hat. Hinter einem Regal kauernd bleibt sie gefasst und überlegt, was zu tun ist.
»Ich weiß nicht warum, aber irgendwie dachte ich, dass mein letztes Stündchen noch nicht geschlagen hatte«, erinnert sie sich. »Ich musste in dem Moment an meinen verstorbenen Mann denken und wusste: Er passt gerade auf, dass mir nichts passiert.«
Lagerraum Ohne sich umzuschauen, nimmt Claire ihren ganzen Mut zusammen und krabbelt ein paar Meter, von Schachteln und Regalen verdeckt, zu einer halb geöffneten Rollladentür, welche in einen Lagerraum führt. Dort kauern bereits eine junge Frau und ein älterer Mann, ein Rabbiner, wie sich herausstellt. Die Mutter der jungen Frau befindet sich noch im Laden.
Die drei setzen unbemerkt eine SMS ab. 15 Minuten lang hören sie, wie der Attentäter im Ladenraum wieder und wieder Schüsse abfeuert und so seine Geiseln unter Druck setzt. Dann gelingt es ihnen, durch das halb geöffnete Rolltor eines Hinterausgangs auf den Parkplatz vor dem Supermarkt zu fliehen.
Sie sind die ersten, die bereits anrückende Polizei über die Lage im Supermarkt informieren können. Die drei werden sofort zur Befragung zum Quai des Orfèvres, dem Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei, gebracht, wo sie den ganzen Nachmittag bleiben.
Im Hyper Cacher sterben Yohan Cohen, Yoav Hattab, Philippe Braham und François-Michel Saada bei dem Versuch, den Attentäter zu überwältigen. Kurz nach 17 Uhr, vier Stunden nach Beginn des Anschlags, stürmt die französische Antiterroreinheit RAID schließlich das Gebäude. Amedy Coulibaly wird erschossen, seine Geiseln sind nach vier Stunden der Todesangst wieder frei. Ein muslimischer Mitarbeiter des Supermarktes hatte einige von ihnen in einem Kühlraum im Keller des Supermarktes eingeschlossen und so vor Coulibalys Kugeln gerettet.
Ein muslimischer Mitarbeiter des Supermarktes hatte einige Geiseln in einem Kühlraum eingeschlossen und so vor Coulibalys Kugeln gerettet.
Im Verkaufsraum finden die Beamten später nicht nur fünf Waffen, die Coulibaly dabei hatte, sondern auch mehrere Sprengsätze. Anscheinend hatte er geplant, den ganzen Supermarkt in die Luft zu jagen. Sein Motiv nennt er noch während der Geiselnahme bei einem Telefonat mit dem Nachrichtensender BFM: Er wolle Juden zu töten, um sie für die Politik Israels zu bestrafen.
Für Claire Naturkrejt bleibt das Attentat auch Jahre später ein einschneidendes Erlebnis, auch wenn sie, wie sie im Gespräch sagt, bis heute keine Alpträume plagen. Sie geht nicht mehr im Hyper Cacher einkaufen: »Ich kann es einfach nicht. Wenn ich dort vorbeigehe, wechsle ich immer auf die andere Straßenseite.«
In den Wochen nach dem Anschlag nimmt sie aus Angst auch keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Wenn ihr farbige oder muslimisch gekleidete Menschen über den Weg laufen, wird sie misstrauisch. Auch ihr Engagement in Vereinen und Gruppen fährt sie zeitweise zurück.
»Ich lebe seit 40 Jahren in Paris, ich mag Frankreich und seine Kultur. Aber als Jüdin hier zu leben, ist nach dem, was hier in den letzten Jahren alles passiert ist, schon schwer«, sagt die heute 65-Jährige, die im belgischen Lüttich geboren aufgewachsen ist.
Gleichgültigkeit Naturkrejt beklagt die Gleichgültigkeit der nichtjüdischen Öffentlichkeit in Frankreich gegenüber dem grassierenden Judenhass. »Man muss es so deutlich sagen: Es gibt hier einen Mangel an Solidarität mit uns Juden. Die Medien berichten oft sehr einseitig, und über den Antisemitismus in der Gesellschaft wird viel zu wenig geredet.«
Auch an den staatlichen Schulen spreche man kaum über das Thema. Die Wissenslücken von Schülern über das Judentum und den Holocaust seien gewaltig, und Frankreichs Juden fühlten sich in gewisser Weise den Angriffen schutzlos ausgeliefert, meint sie.
Nach dem Anschlag rät Claire ihren Söhnen, Frankreich und Europa zu verlassen – allerdings ohne Erfolg. Sie wollten bleiben.
»Ich kann nicht mehr im Hyper Cacher einkaufen. Wenn ich dort vorbeigehe, wechsle ich immer auf die andere Straßenseite«, sagt Claire Naturkrejt.
»Ich spreche nicht mehr sehr oft über das Geschehene. Das bedrückt mich einfach zu sehr. Ich will nicht immer und immer wieder darüber reden, und ich will nicht darauf reduziert werden«, sagt sie.
Ihrer vor zwei Jahren verstorbenen Mutter hat sie nie verraten, dass sie während des Anschlags im Hyper Cacher war: »Warum sollte ich eine alte Frau mit so etwas Schrecklichem belasten? Sie hätte sich nur unnötig Sorgen um mich gemacht und am Ende doch nichts tun können.«
Ultraschall Am Ende des Gesprächs kommt Claire Naturkrejt noch einmal darauf zu sprechen, warum sie sich an jenem 9. Januar 2015 die ganze Zeit so sicher war, dass sie Attentat überleben würde: »Einer meiner Söhne wollte mir an jenem Freitag etwas Wichtiges sagen. Er war mit seiner Frau zum Ultraschall beim Arzt gewesen. Die beiden hatten es zuvor schon mehrmals mit künstlicher Befruchtung versucht, aber ohne Erfolg.«
»Und just an diesem Tag erhielten sie dann die Nachricht: Es hatte geklappt, meine Schwiegertochter war schwanger, ihr erstes Kind war unterwegs, es war ein Mädchen. Ich hatte so sehr gehofft, dass es endlich klappen würde. Ich habe mich für die beiden so gefreut. Manchmal liegen eben im Leben Freude und Leid ganz eng zusammen.«