Das ungarische Judentum war lange Zeit eine fast unsichtbare, doppelt traumatisierte Gemeinschaft: Nur wenige haben die Schoa überlebt, viele von ihnen emigrierten in den Westen. Und von denen, die blieben, hatten die meisten Angst, sich im Sozialismus als Juden zu outen. Kein Wunder also, dass viele aus der Nachkriegsgeneration sich ihrer Wurzeln nicht bewusst waren.
Erst die Wende 1989 brachte eine Veränderung: Langsam erwachte das jüdische Leben aus seinem Dornröschenschlaf. Das American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) erkannte dies und half beim Wiederaufbau der Gemeinschaft.
ANFÄNGE Teil dieses Aufbruchs ist das 1994 gegründete Gemeindezentrum »Bálint-Haus« mitten in Budapest. Es ist das größte seiner Art in Mittelosteuropa. Mit seinen jährlich 15.000 Besuchern und 120 Veranstaltungen im Monat symbolisiert es die jüdische Renaissance in Ungarn.
Ins Leben gerufen wurde es gemeinsam vom Joint, dem Ungarischen Verband der Jüdischen Gemeinden (Mazsihisz) und der in England lebenden ungarisch-jüdischen Familie Bálint, woher es auch seinen Namen hat.
Der neue Direktor möchte die Besucher aus der Reserve locken.
Von Anfang an waren Juden und Nichtjuden willkommen. Obwohl die jüdische Liturgie eine wichtige Rolle spielte und weiterhin spielt, wollte man in erster Linie die vielfältige säkulare jüdische Kultur wiederbeleben. Viele aus der verlorenen Generation erlangten ihr Wissen über das Judentum erst hier.
highlights Das Angebot ist so vielfältig, dass man die Programme, Klubs und Feiern kaum aufzählen kann. Besondere Highlights sind das sogenannte Judafest, ein alljährlicher Straßenball, sowie die jüdischen Filmfestspiele ZsiFi.
Der Erfolg ist Zsuzsa Fritz zu verdanken, die 15 Jahre lang an der Spitze des Gemeindezentrums stand. Vor einigen Wochen hat sie den Stab an die nächste Generation übergeben, an den 37-jährigen Marcell Kenesei. Auch er gehört zu denjenigen, die ihre jüdische Identität erst später erkannt haben. Der Politologe ist trotz seines jüngeren Alters schon ein erfahrener Manager. Mit ihm soll die Entwicklung des Bálint-Hauses in die nächste Phase treten.
Wurde es bisher fast ausschließlich vom Joint finanziert, soll das Haus künftig auf eigenen Füßen stehen. Der Joint hat sich plangemäß von der Trägerschaft zurückgezogen und wird nur noch aus dem Hintergrund unterstützen. Nun ist es an Kenesei, die Finanzen zu sichern. Ein solides, auf mehreren Füßen stehendes Modell mit einer viel größeren Unabhängigkeit soll eingeführt werden.
konzept Das Konzept soll sich nicht grundlegend ändern, doch neue Elemente werden hinzukommen. »Wir bauen viel stärker auf strategische Partnerschaften mit potenziellen ausländischen und einheimischen Förderern, die den weiteren Ausbau der hiesigen jüdischen Gesellschaft unterstützen wollen«, erklärt Kenesei.
Aber auch das Publikum wird gebeten, beizutragen. Für Programme, die bisher unentgeltlich angeboten wurden, wird in Zukunft Eintritt verlangt, wenn auch in bescheidener Höhe.
Sorgen um ein schwindendes Interesse macht sich der neue Direktor nicht, da die Veranstaltungen, wie die oft hitzigen politischen Podiumsgespräche mit bekannten Persönlichkeiten oder die Kinderveranstaltungen, so beliebt sind, dass das Publikum für die Karten bestimmt gern aufkommen wird.
ANGEBOTE Doch es gibt auch Konkurrenz. In den vergangenen Jahren haben sich etliche neue jüdische Organisationen mit attraktiven Angeboten etabliert. »Das ist gut so, und wir nehmen sie nicht als Rivalen wahr. Es freut uns, wenn sie Erfolg haben«, sagt Kenesei. »Doch müssen wir uns Gedanken machen, wie wir unsere Bindung an das Judentum noch spannender, noch interessanter und möglichst lebensnah gestalten können.«
An erfrischenden Ideen fehlt es nicht. So soll es ein »Young Adult Professionals«-Programm geben, eine Art Netzwerkbörse. Dort können Jugendliche mit engagierten jungen Erwachsenen, die bereits erste berufliche Erfolge haben, ins Gespräch kommen und sich bei ihnen über Ausbildungs- oder Studienmöglichkeiten informieren.
Auch will man stärker auf verschiedene Trends bauen und sie in einen jüdischen Kontext stellen, zum Beispiel auf gesunde Ernährung, von der heutzutage so viel die Rede ist. Immerhin waren die Israeliten das erste Volk, das sich darüber Gedanken machte, was man essen soll und was nicht.
wissenszentrum Warum also nicht über Veganismus oder glutenfreie Speisen reden und sie mit der jüdischen Tradition verbinden? Es wird auch ein sogenanntes Wissenszentrum geschaffen werden, das helfen soll, den Weg zum Judentum zu finden oder die Kenntnisse der bereits aktiven Mitglieder weiter zu vertiefen.
Eines der Ziele von Marcell Kenesei ist es, Menschen aus der Reserve zu locken. »Es gibt etliche Juden, die sich zwar als solche sehen, sich aber kaum für das Judentum interessieren«, gibt er als Beispiel. »Diese Leute lassen sich jedoch gern für gute Zwecke aktivieren, wie zum Beispiel für den Kampf gegen häusliche Gewalt oder den Einsatz für Menschen mit Behinderung. Das machen natürlich auch Nichtjuden, aber im Judentum ist das seit Jahrtausenden als Mizwa verankert.«
Eine Mizwa ist auch die Unterstützung anderer Minderheiten, wie etwa der Roma oder der LGBTQ-Gemeinde. »Wenn jemand weiß, wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu sein, dann sind wir das«, sagt Kenesei. »Deswegen betrachten wir es als unsere Pflicht, denen zu helfen, die in einer vergleichbaren Situation sind.«
aktivitäten Keine leichte Aufgabe in einem Land, in dem die Bevölkerung eher konservativ ist und die Regierung nicht gerade auf Multikulti steht. Gerade die Roma haben in Ungarn viel weniger Möglichkeiten als Juden. Kenesei will deshalb gemeinsame Aktivitäten planen.
Das Bálint-Haus unterstützt auch die Roma-Community.
So könnte die Roma-Community zum Beispiel von den Erfahrungen der Sommercamps profitieren, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Aufbau einer selbstbewussten jungen jüdischen Identität beigetragen haben. Es gibt eine Initiative, in der Leiter jüdischer Jugendorganisationen mithelfen, ihre Roma-Kollegen auszubilden, damit sie ähnliche identitätsstiftende Programme durchführen, die Roma-Kindern helfen, auf ihre Kultur stolz zu sein.
Lockdown Natürlich zwang der Lockdown der vergangenen Monate auch das Bálint-Haus, nach neuen Wegen zu suchen. Online-Kerzenzünden oder Seniorengymnastik vor dem Bildschirm sind inzwischen Alltag, und manchmal schöpfte man aus der Not Inspiration, so an Pessach: Früher kamen viele zum Seder ins Gemeindezentrum, da sie sich mit dem genauen Ablauf der Rituale schwertaten. Doch durch Corona war das nicht mehr möglich.
Um Abhilfe zu schaffen, packten Kenesei und seine Mitarbeiter für Interessierte eine sogenannte Pessach-Box – jedoch nicht mit den unentbehrlichen Speisen und dem Wein, sondern mit einer genauen Anleitung für den Abend: die Haggada zum Vorlesen und ein Bündel »Sederkarten« mit Anweisungen, wie der Abend zu moderieren ist. »Somit konnten unerfahrene Familien den Seder locker, fast wie ein Gesellschaftsspiel, begehen«, berichtet Kenesei nicht ohne Stolz.
»Return of Investment« nennt der neue Leiter das Bálint-Haus: Es hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das ungarische Judentum wieder stolz ist und zugleich guten Mutes in die Zukunft schaut. Darauf baut Marcell Kenesei.