In 26 Kurzgeschichten erzählt der ursprünglich aus Zürich stammende Roger Reiss aus dem jüdischen Genf. Sein Buch »Nicht immer leicht, a Jid zu sein« gewährt dem Leser einen ungewohnten Einblick ins zeitgenössische jüdische Leben der größten französischsprachigen Stadt der Schweiz. Den zentralen Schauplatz seiner Erzählungen bildet die Bäckerei mit dem Café »Moule à Gâteau«. Das Moule ist gewissermaßen die Seele des jüdischen Genfs, ein Ort, an dem sich distinguierte Kunsthändler und Bankiers ebenso zu Kaffee und Croissant treffen wie tratschende Großväter. Es ist in diesem Sinne ein Mikrokosmos innerhalb der Weltstadt Genf, deren jüdische Gemeinde sich vornehmlich aus gemachten Leuten zusammensetzt. Aber auch Ökoterroristen und israelische Kaffeehausgeneräle sind Teil der 5.000 bis 6.000 jüdischen Seelen in Genf – und wenn schon nicht Protagonisten, dann wenigstens Gesprächsstoff im Moule.
beobachter Der Autor nimmt eine analysierende Außenperspektive ein, er steht in einem gewissen Abstand zu den Geschichten, ist aber auch immer wieder Teil davon. Im Vorwort definiert er seine Rolle als »teilnehmender Beobachter«, der von seinem Judentum zehrt, ohne vollständig in ihm aufzugehen. Vor allem wegen seines aschkenasischen Zürcher Hintergrunds sieht er sich im sefardisch dominierten Genf immer wieder mit Überraschungen konfrontiert. Vielleicht hat er gerade darum den Titel des Buches Nicht immer leicht, a Jid zu sein bewusst mit etwas Jiddisch angereichtert. Der Erzählband wird denn auch mit einem Glossar zu jiddischen und hebräischen Wörtern abgerundet.
Schmunzeln Immer wieder schafft es Reiss, den Leser zu unbekannten Orten und Situationen mitzunehmen und zum Schmunzeln zu bringen. Doch der pensionierte Banker, Literat und Künstler ist nicht nur Betrachter, sondern häufig auch erlebender Protagonist. Mehrmals greift er ins Geschehen ein, zum Beispiel, als er den Genfer Flohmarkt von antisemitischen Schundschriften befreit, indem er diese kurzerhand aufkauft. Auch banale Alltagsdinge entwickeln sich in Reiss’ Buch zu Abenteuern, wie etwa die hürdenreiche Beschaffung eines koscheren Hühnchens für das Schabbatessen mit den eingeladenen Eltern aus Zürich. »So viel war klar: Wenn wir es nicht schaffen würden, innerhalb der nächsten Stunden die Zutaten für ein galizisches Menü zu besorgen, hätten wir Leon und Lucie einer lebenswichtigen Illusion beraubt.«
Die kurzen Erzählungen sind ebenso vielfältig und unterschiedlich wie die Menschen, die darin porträtiert werden: Skandalgeschichten sind genauso vertreten wie witzige Anekdoten. Reiss, der in Zürich Betriebs- und Volkswirtschaft studiert hat, setzt sich immer wieder mit seinem persönlichen Judentum auseinander, das auch von seinen Erlebnissen im jüdischen Genf mitgeprägt wird. Er steht zwischen dem ehemaligen jemenitischen Pferdekutscher, dessen orientalische Gesänge ihn in den Bann ziehen, und den Intellektuellen, die sich im Moule über israelische Politik zanken.
ENTDECKUNGSREISE Reiss reflektiert, beobachtet, hinterfragt, staunt und kritisiert auch mal zwischen den Zeilen. Dabei würzt er alles mit einer Prise Humor. Mit seinem Buch führt er den Leser in Welten, von denen er sich kaum erdacht hätte, dass es sie in der ruhigen Schweiz überhaupt gibt. Dies zusammen mit den vielen sprachlichen Feinheiten und dem humoristischen Touch machen das Buch zu dem, was es ist: ein eindrücklicher und authentischer Einblick ins jüdische Leben der Calvinstadt – eine Entdeckungsreise, die sich lohnt.