Hollywood

Freizügig in »Little Odessa«

Der Stadtteil Brighton Beach, eingelassen zwischen dem Vergnügungsviertel Coney Island und dem deutlich ruhigeren Manhattan Beach, liegt ganz im Süden von Brooklyn, New York. In den Straßen flattern an Zeitungsständen kyrillisch bedruckte Blätter, kyrillisch sind auch die Schriftzüge an den Geschäften, auf der Promenade sitzen auf den Bänken ältere Leute, die Russisch oder Ukrainisch und manchmal auch Polnisch sprechen, und manche tragen bis weit in den Frühling hinein Fellmützen.

Brighton Beach trägt seinen Spitznamen »Little Odessa« mit Stolz. Schon in den 1920ern ließen sich hier viele russische Juden nieder. In den 70ern kamen Flüchtlinge aus der Sowjetunion, vor allem aschkenasische Juden aus Russland und der Ukraine.

Der Strand hinter der hölzernen Flaniermeile, die bis in die Wellen des Atlantiks hinausführt, ist im Sommer wie im Winter blass. Überall werden Speisen und Getränke feilgeboten, Grillfleischgeruch liegt in der Luft, vermischt sich mit dem von Zigarettenrauch und weht über die Köpfe der Promenierenden hinweg.

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Brighton Beach steht für vieles: billige Geschäfte und Restaurants, Stripclubs, die Heimat der russischen Diaspora in New York und wunderschön orangefarbene Sonnenuntergänge. Es ist der lebendig-gewordene Melting Pot. Und nun ist es auch noch Schauplatz und Co-Star des diesjährigen großen Oscar-Gewinnerfilms Anora.

Oscar-Film als Karrieresprungbrett

Anora ist der Name einer usbekisch-amerikanischen Stripperin, mit Spitznamen »Ani«, gespielt von der jüdischen Schauspielerin Mikey Madison, die in einem der einschlägigen Clubs in Brighton Beach ihr Geld verdient. Weil sie als Einzige der Sexarbeiterinnen Russisch spricht, schickt ihr Chef sie, um den 21-jährigen Ivan zu »bedienen«, den verwöhnten Sohn eines russischen Oligarchen, der weiter nördlich in Brooklyn auf einem großen Anwesen lebt und irgendwann wieder nach Russland zurückkehren soll – so der Plan. Ivan bezahlt Ani großzügig für ihre Dienste, und schließlich entwickelt sich aus der bezahlten Aufmerksamkeit eine wild-romantische Affäre. Auf deren Höhepunkt fliegt das junge Paar nach Las Vegas und heiratet. Das ruft Ivans Eltern auf den Plan, die alles tun, damit die Ehe annulliert wird. Diese etwas andere Version von Pretty Woman wurde mit insgesamt fünf Oscars bedacht, darunter auch in der Königsdisziplin Bester Film. Und für viele der Darsteller wird er sicherlich zum Karrieresprungbrett werden.

Zum Beispiel für Mark Eydelshteyn, der den verhätschelten Ivan spielt und der bereits als »russischer Timothée Chalamet« gehandelt wird. Mark Aleksandrovich Eydelshteyn wurde 2002 in Russland in eine jüdische Familie geboren, genauer gesagt in Nischni Nowgorod, wo seine Mutter an der Theaterschule Schauspiel unterrichtet. Er habe schon immer Schauspieler werden wollen, betont Eydelshteyn in Interviews. Um bei seiner Mutter in der Theaterschule sein zu können, habe er sogar häufiger die Schule geschwänzt.

Anora ist seine erste US-Produktion. Regisseur Sean Baker hatte explizit nach einem Russisch sprechenden Schauspieler gesucht, dessen Muttersprache nicht das Englische war. 2022 war Eydelshteyn mit dem preisgekrönten russischen Coming-of-Age-Film Strana Sasha der nationale Durchbruch gelungen, der ihm sogar eine Nominierung für den russischen Oscar, den Golden Eagle Award, einbrachte.

Schwer zu fassendes Flatterwesen

Ätherisch-androgyn und maskulin zugleich, mal nachlässig und mal erlesen gekleidet, Reichtum und Opulenz versprühend nimmt Mark Eydelshteyn in Anora die Pose und die Gesten eines jungen Adligen an, den das Schicksal an Orte pustet, an die er eigentlich nicht gehört. Und wie Ivan wirkt auch Eydelshteyn selbst, sei es auf dem roten Teppich oder in Interviews, wie ein schwer zu fassendes Flatterwesen: ständig in Bewegung, immer irgendwo fern und weg, in atemberaubenden Umgebungen lebend.

Seine Karriere begann 2018, als er bei einem Theaterwettbewerb für »große Bühnenklassiker« vom Dekan der Schauspielabteilung des Russischen Instituts für Theaterkunst entdeckt wurde. Der riet ihm, möglichst schnell die Schule zu beenden, um dann Schauspiel zu studieren. Das tat er in Nischni Nowgorod und ging 2019 nach Moskau, wo er an der Studioschule des Moskauer Akademischen Kunsttheaters aufgenommen wurde. 2023 machte er sein Diplom. In der Zwischenzeit trat er in Kurz- und Fernsehfilmen auf. 2023 kamen Kinoproduktionen dazu wie Guest from the Future, ein anderes Mal spielte er das Mathematik­genie Grigori Perelman in jungen Jahren.

Und nun also Ivan in Anora, einen reichen Lüstling, halb kindlich-unschuldig, halb manipulativ und dunkel, einen Playboy mit Kindergesicht. Sein Auftritt hat ihn in Hollywoods Newcomer-Liste katapultiert und ihm bereits die nächste Hauptrolle gesichert: Mr. Smith, in der Amazon-Serie Mr. & Mrs. Smith, eine Adaptation des gleichnamigen Kinohits mit Brad Pitt und Angelina Jolie aus dem Jahr 2005. Fragt man Eydelshteyn nach seinen Vorbildern, sagt er wie aus der Pistole geschossen: »Heath Ledger in The Dark Knight. Er hat das System gehackt!«

Seit Marky Mark gab es wohl keinen Schauspieler mehr, der sich so gern so spärlich bekleidet zeigt.

Nach seinem bisherigen Leben in Russland scheint dies der Beginn einer amerikanischen Karriere. Vor allem für die Klatschpresse ist der junge Mann allerdings noch Terra incognita: Eydelshteyn scheint zurzeit keine Beziehung zu haben, bezeichnet sich selbst aber als sehr romantisch und als kunstbesessen, was er durch Verweise auf Gemälde auch immer wieder belegt. Und mit Worten kann er nicht nur vor der Kamera umgehen: Der »New York Times« sagte der 23-Jährige, es berühre ihn, die Traurigkeit großer Stars zu sehen, die Einsamkeit hinter dem Lächeln.

Eydelshteyn hat eine weiche Stimme, raucht gern Zigaretten oder vapt und trägt gern schöne Kleidung. Weil er inzwischen »einigermaßen berühmt« sei, würden Designer ihn gratis mit Mode überhäufen, sagt er. Das sei ganz wunderbar, weil er sich das alles selbst (noch) gar nicht leisten könne.

Albern und nachdenklich

Journalisten und Kollegen beschreiben Eydelshteyn als kindlich, aber auch auf kluge Art introvertiert. Albern und nachdenklich, wie so viele Menschen in seinem Alter. »Er hat auch diese sehr sensible, tiefe Seite, die ich glücklicherweise besser kennenlernen durfte«, erzählte Anora-Co-Star Mikey Madison in Interviews. Oft hätten sie am Set zusammen hysterisch gelacht.

Auf Fotos zeigt sich Eydelshteyn freizügig und ungezwungen. Und offensichtlich auch mal mit Magen-David-Kette. Seit Marky Mark gab es wohl keinen Schauspieler mehr, der sich so gern so spärlich bekleidet zeigt – ob in Unterhosen oder möglichst tief heruntergezogenen Boxershorts. Um sich bei Regisseur Sean Baker für die Rolle des Ivan vorzustellen, soll er ein Video geschickt haben, in dem er gänzlich unbekleidet auftritt, nur mit einem Vaper in der Hand. Für eine Fotostrecke in der US-amerikanischen »Cosmopolitan« inszenierte sich Eydelshteyn ebenfalls fast nackt, nur partiell mit einem braunen Pelzmantel bedeckt – und mit Tennissocken. Und auch in Anora zeigt Eydelshteyn alles. In seiner Nacktheit, so sagte er im »Cosmopolitan«-Interview, verschmelze er, Mark, mit der Figur des Ivan. »Im Film, das war Ivan, das hier bin ich«, so der Jungstar über sein Selbstbild.
Egal ob nackt oder angezogen, Eydelshteyns Fanbase wächst täglich, TikTok dreht durch. Noch pendelt er zwischen Russland und den USA. Aber wenn es so weitergeht, ist es vielleicht bald an der Zeit, sich nach einem Haus in Brighton Beach umzusehen.

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