Evan Gershkovich wird am 7. Juli kaum nach Feiern zumute gewesen sein: Es war sein 100. Tag im Gefängnis. Offiziell sitzt der zuletzt für das Moskauer Büro des »Wall Street Journal« tätige amerikanisch-jüdische Journalist wegen Spionagevorwürfen in Russland in Untersuchungshaft. Er soll Daten über ein Rüstungsunternehmen gesammelt haben, doch was ihm im Detail zur Last gelegt wird, ist unbekannt, da die Strafsache der Geheimhaltung unterliegt. Kommt es zu einer Gerichtsverhandlung, drohen dem 31-Jährigen bis zu 20 Jahre Straflager.
Nun gab es erstmals konkrete Anzeichen für ein Fortschreiten der Bemühungen um einen etwaigen Gefangenenaustausch. Anfang vergangener Woche erhielt die US-Botschafterin in Moskau, Lynne Tracy, erstmals seit ihrem letzten Besuch im April die Erlaubnis, Gershkovich im Hochsicherheitsgefängnis Lefortowo zu sprechen. Zeitgleich konnten russische Diplomaten den seit 2021 in Ohio inhaftierten Malware-Entwickler Wladimir Dunajew aufsuchen, dem die USA transnationale Cyberkriminalität vorwerfen.
GESPRÄCHE Kremlsprecher Dmitrij Peskow deutete am Folgetag an, dass dies Teil eines Verhandlungsprozesses für einen eventuellen Gefangenenaustausch sein könnte. »Es existieren diesbezüglich gewisse Kontakte«, zitierte ihn die Nachrichtenagentur RIA Novosti. Einzelheiten wollte er nicht preisgeben, denn der Verlauf der Gespräche sei nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Jake Sullivan, Berater von US-Präsident Joe Biden für Fragen der nationalen Sicherheit, bestätigte am vergangenen Freitag Peskows Worte. Es habe tatsächlich Diskussionen gegeben, aber daraus hätten sich keinerlei klare Anhaltspunkte ergeben, auf welche Weise eine Freilassung erfolgen könnte. Zwar unternähmen die Vereinigten Staaten alles in ihrer Macht Stehende, um eine Lösung zu finden, doch wolle er »keine falschen Hoffnungen« wecken. Sullivan hatte sich zuvor mit Familienangehörigen des Journalisten und einigen seiner Kollegen getroffen. Ein Sprecher des US-Außenministeriums teilte überdies mit, Gershkovich befinde sich in guter Verfassung.
Bereits im April hatte die Nachrichtenagentur Bloomberg den Verdacht geäußert, Russlands Präsident Wladimir Putin habe höchstpersönlich Gershkovichs Verhaftung angeordnet. Peskow verneinte dies im Anschluss mit Verweis auf die Kompetenzen der zuständigen Geheimdienste, die lediglich ihre Funktion erfüllt hätten. Sie unterstehen jedoch direkt Putin, und ohne seine Billigung wäre ein Akt wie dieser sicherlich undenkbar. Schließlich handelt es sich um den ersten Spionagefall gegen einen ausländischen Korrespondenten seit 1986.
Geheimdienste Rechercheergebnisse über das Vorgehen russischer Geheimdienste, die das »Wall Street Journal« vergangene Woche veröffentlichte, ergeben ein finsteres Bild. In der Publikation, die auf Dutzenden Interviews mit hochrangigen westlichen Diplomaten und Beamten aus dem Sicherheitsapparat beruht, ist insbesondere von einer beim Inlandsgeheimdienst FSB angesiedelten Sondereinheit für Aufklärungsoperationen die Rede, kurz DKRO, die sich auf die Beobachtung ausländischer Staatsangehöriger spezialisiert.
Für die USA und Kanada ist deren erste Abteilung zuständig. Diese Gruppe soll auch für eine Reihe seltsamer Vorfälle verantwortlich sein, wie beispielsweise den mysteriösen Tod des Hundes eines US-Botschaftsmitarbeiters sowie platte Reifen an Dienstfahrzeugen.
Aus dem Material geht ebenso hervor, dass Putin sich gezielt für die Operation interessiert habe, die zur Festnahme von Gershkovich geführt hat. Auf die Frage, warum sich der DKRO ausgerechnet den jungen Journalisten vorgenommen hat, haben dessen Kollegen eine einleuchtende Antwort parat: In einem seiner letzten Artikel ging es um die Verantwortung der Geheimdienste bei der Planung der russischen Invasion in die Ukraine.