In wenigen Tagen wird ein brandneues Ambulanzfahrzeug mit einem lilafarbenen Stern des Lebens, dem Logo von »Ezras Nashim«, durch die Straßen von Brooklyn rasen. Ein kleines Element nur im Organismus der Stadt – und zugleich ein Symbol der besonderen Art.
Ezras Nashim ist einer von mehreren Hundert Rettungsdiensten in New York – seit Mitte August auch mit der offiziellen Lizenz, Patienten im eigenen Ambulanzfahrzeug zu befördern. Vor allem ist Ezras Nashim aber die weltweit erste und bislang einzige Organisation freiwilliger Rettungssanitäterinnen, ein Dienst von Frauen vornehmlich für Frauen – und zwar Charedi-Frauen in Brooklyn, der größten ultraorthodoxen Gemeinde außerhalb Israels.
Ezras Nashim heißt wörtlich Frauenhilfe, aber der Begriff wird auch für den Bereich in orthodoxen Synagogen verwendet, der für Frauen reserviert ist.
FAHRZEUG Die Lizenz der Stadt New York für das Betreiben eigener Rettungsambulanzen sei ein »riesiger Schritt« für die Organisation, die 2014 gegründet wurde, sagt Michal Raucher, Professorin für Jüdische Studien an der Rutgers University in New Jersey. Bislang hätten die Sanitäterinnen von Ezras Nashim nur Hausbesuche machen, aber keine Patienten ins Krankenhaus befördern können. »Aber mit einem eigenen Ambulanzfahrzeug können sie jetzt schneller und effizienter auf eine größere Bandbreite von Notfällen reagieren.«
Ezras Nashim heißt wörtlich Frauenhilfe, aber der Begriff wird auch für den Bereich in orthodoxen Synagogen verwendet, der für Frauen reserviert ist.
»Wir sind sehr glücklich,« sagt Leah Levine, Marketingchefin von Ezras Nashim. Mithilfe einer Online-Fundraising-Kampagne gelang es den Frauen auch, bis zu Wochenbeginn das Geld für den Erwerb eines voll ausgestatteten Ambulanzfahrzeugs zu sammeln – 100.000 Dollar.
Die Idee zur Gründung von Ezras Nashim kam von Levines Mutter, Rachel, genannt »Ruchie« Freier. Sie ist Richterin an einem Bezirksgericht in New York City, die erste ultraorthodoxe Frau in einem solchen Amt. Die »New York Times« nannte Freier »eine chassidische Superwoman«.
versorgungslücke Freier, 55, Mutter von sechs Kindern, eine Frau mit zierlicher Statur und feinen, nervösen Gesichtszügen, wollte eine – ihrer Meinung nach inakzeptable – medizinische und kulturelle Versorgungslücke schließen.
Neben den städtischen Rettungsdiensten ist in Brooklyn auch Hatzalah aktiv, eine Organisation aus freiwilligen Sanitätern, die seit mehr als 50 Jahren weltweit vor allem für Bewohner jüdisch-orthodoxer Wohngebiete Notfallversorgung leisten.
Doch das Ambulanzcorps von Hatzalah ist ausschließlich mit Männern besetzt. Ein Problem für ultraorthodoxe Frauen, die sich nach dem religiösen Gebot von Sittsamkeit und Bescheidenheit – hebräisch: Zniut – kleiden und bewegen. Der Körper ist weitgehend bedeckt; verheiratete Frauen tragen Kopftuch oder Perücke (Scheitel). Der Ehemann sei häufig der einzige Mann, der diese Frauen je berührt habe, sagt Levine. »Wenn dann in einem medizinischen Notfall mehrere männliche Sanitäter die Frauen anfassen und untersuchen, fühlen sie sich unwohl, gedemütigt, verängstigt.«
Zniut Zwar stehe nach jüdischem Religionsgesetz die Rettung des Lebens über allen anderen Geboten, auch dem von Zniut – doch immer wieder würden ultraorthodoxe Frauen aus tiefer Scham gar keine oder zu spät medizinische Hilfe anfordern – bisweilen mit fatalen Folgen. Levine erinnert sich an eine Frau, die nach einer aufgeplatzten Vene am Bein über Stunden versuchte, die schwere Blutung selbst zu stillen, bevor sie schließlich den Notruf wählte: »Als die Sanitäter kamen, war die Frau tot.«
Eine von Levines Nachbarinnen fand sich bei der Geburt ihres Kindes in der Rettungsambulanz umgeben von Männern. Sie unterdrückte mit aller Kraft den Drang zu pressen. Das Baby kam zur Welt, doch der Geburtskanal der Frau war so schwer verletzt, dass sie danach keine Kinder mehr bekommen konnte. »Keine Frau sollte ein solches Trauma erleben müssen«, sagt Levine. »Wir wollen, dass die Frauen eine Wahl haben.«
Mehrere Jahre lang versuchte die Gruppe um Rachel Freier, die selbst ausgebildete Rettungssanitäterin ist, der Freiwilligenambulanz von Hatzalah beizutreten. Doch anders als in Israel nimmt Hatzalah in den USA keine Frauen auf. Auf eine Interviewanfrage antwortete die Organisation nicht.
Die Männer von Hatzalah versuchen, die Arbeit der Frauen zu untergraben.
Die Frauen um Rachel Freier entschieden sich, ihren eigenen Rettungsdienst zu gründen. Seither versucht Hatzalah, die Arbeit von Ezras Nashim zu untergraben sowie die Glaubwürdigkeit der Organisation und vor allem Freiers Reputation zu zerstören – mit Kampagnen in sozialen Medien, anonymen Drohanrufen und offener Opposition. Die Lobbyarbeit von Hatzalah verhinderte, dass Ezras Nashim im ersten Anlauf eine Lizenz für den Betrieb von Ambulanzfahrzeugen erhielt, doch beim zweiten Versuch setzten sich die Frauen durch.
widerstand Der Widerstand sei absurd, sagt Adam Mintz, ein modern-orthodoxer Rabbiner und Professor am City College von New York. »In einer Welt, in der die Geschlechter streng voneinander getrennt leben, sollte eine Organisation wie Ezras Nashim eigentlich willkommen sein.«
Die Störmanöver von Hatzalah konnten Ezras Nashim nicht aufhalten. Mittlerweile arbeiten 60 Rettungssanitäterinnen für den Dienst, mehr als 20 weitere befinden sich im Training. Der preisgekrönte Dokumentarfilm 93 Queen – das ist der Code von Ezras Nashim für den Funkverkehr – beschreibt die Entstehungsgeschichte der Frauenambulanz.
Als das Coronavirus im Frühjahr in New York wütete und die Krankenhäuser der Stadt überfüllt waren, betreute Ezras Nashim viele Menschen zu Hause, lieferte Sauerstoff-Flaschen, Pulsoximeter, Masken und Medikamente, leistete Geburtshilfe und versorgte die Alten.
schichten Der Erfolg von Ezras Nashim sei nicht nur für die Patientinnen von großer Bedeutung, sondern auch für die Sanitäterinnen, betont Michal Raucher. »In den Charedi-Gemeinden der USA leben und arbeiten die Frauen – anders als in Israel – kaum außerhalb ihres Hauses.« Wenn sie nun plötzlich Zwölf-Stunden-Schichten als Rettungssanitäterinnen übernehmen, »zwingt das die Familien dazu, das häusliche Leben neu zu strukturieren«.
Die Lizenz für Ezras Nashim zum Betrieb von Ambulanzwagen werde ferner dazu führen, dass Frauen mobiler würden, dass sie die Grenzen zwischen ihrer eigenen religiös-insularen Welt und der säkularen Welt der Krankenhäuser regelmäßig überschreiten würden. »Das definiert die Rolle von Frauen in ultraorthodoxen Gemeinschaften neu und ist auch ein symbolischer Schritt zur Öffnung dieser bislang weitgehend geschlossenen Lebensräume«, sagt Raucher.
Der Beginn einer gesellschaftlichen Revolution also? Keine Frage, sagt Rabbi Mintz. »Und Charedim haben Angst vor Revolutionen.« Deshalb der hartnäckige Widerstand von Hatzalah.
Ezras Nashim bekomme derweil Anfragen aus anderen Städten der USA mit ultraorthodoxen Gemeinden, sagt Leah Levine – aus Städten wie Newark, Los Angeles und Miami. Auch in London, Antwerpen oder Melbourne gibt es Interesse. »Erst einmal wollen wir unsere Strukturen in Brooklyn ausbauen«, sagt Levine. Dann kommt der Rest Amerikas – und der Welt.