An einer Straße mit lauter Reihenhäusern im Norden Londons fällt einer der kleinen Vorgärten besonders auf. Wer ihn betreten möchte, muss zuerst den Eingang suchen, so dicht stehen die Sträucher, darunter ein Busch mit roten Beeren. Die kaum sichtbare Haustür dahinter, an der eine Chamsa hängt, ist ebenfalls rot. Hunde bellen aufgeregt beim Anklopfen.
Als die Tür geöffnet wird, ist noch mehr Rot zu sehen: Deena Kestenbaum – die 61-Jährige hat ihre Haare rot gefärbt – trägt eine rote Brille, eine weinrote Bluse mit rotem Halstuch, einen rot gemusterten Rock und grell roten Lippenstift.
»Farbe heitert mich auf«, sagt sie, als im Wohnzimmer noch mehr Farbe, große moderne Ölgemälde und bunte Möbel sichtbar werden. Es sei das Resultat vieler Jahre Umbau.
Paradies Hinter dem Haus eröffnet sich das Paradies eines eng bepflanzten, wild gepflegten Gartens.
»Ich habe Gartenbau studiert und früher auch auf der Chelsea Flower Show ausgestellt«, sagt sie beiläufig – obwohl das durchaus etwas Besonderes ist. Denn die Show gilt als internationaler Höhepunkt für Gartenbauer.
Auf dem Tisch in Deena Kestenbaums Garten steht ein großer Kasten. Sie öffnet ihn und nimmt einen hölzernen Rahmen mit klebrigen Waben heraus. »Ich werde sie demnächst schleudern«, sagt sie stolz. Der Honig, den ihre Bienen produziert haben, stammt aus dem Garten der New North London Synagogue, einer Masorti-Gemeinde. Dort kommt der Honig an Rosch Haschana auf den Tisch – es ist gemeindeeigener Honig.
Einer der dortigen Rabbiner, Jonathan Wittenberg, versucht seit Jahrzehnten, die Gemeindemitglieder dafür zu sensibilisieren, dass ökologisches Bewusstsein Teil des Konzepts »Tikkun Olam« (Heilung der Welt) ist.
Synagoge Kestenbaum erzählt, dass sie sich zwar früher schon für die Imkerei interessierte, doch immer glaubte, es sei zu schwierig. Erst nach mehreren Gesprächen mit Rabbi Wittenberg, der sich wünschte, dass die New North London Synagogue eigenen Honig produziert, war sie bereit, als Imkerin der Gemeinde zu arbeiten.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten – der ausgewählte Ort im Gemeindegarten war den Bienen zu schattig – kam die Sache vor sieben Jahren in Schwung. Seitdem hat die Gemeinde tatsächlich ihren eigenen Honig.
Kestenbaum sagt, sie sehe in ihrer Imkerarbeit eine Anbindung an ein kulturelles Judentum mit moralischen Inhalten, denn religiös sei sie überhaupt nicht. Neben ihrer Arbeit mit den Bienen hilft sie im Rahmen der Gemeindeaktivitäten regelmäßig einigen Flüchtlingen.
kindheit Kestenbaum stammt aus den Vereinigten Staaten und wuchs orthodox auf. Ihre Kindheit verbrachte sie aufgrund der Arbeit ihres Vaters vor allem in Tokio. Bis vor zehn Jahren lebte sie in Israel und arbeitete als Historikerin. Ihr Spezialgebiet war die Renaissance, dabei vor allem die Episoden der Pest. »Ich habe gelernt, welche gesellschaftliche Robustheit es im Kern dieser tödlichen Seuchen gab. Die Essenz der Bevölkerung überlebte trotz allem, was gegen sie gerichtet war«, erläutert Kestenbaum.
Vor einigen Jahren fühlte auch sie sich so, als richte sich alles gegen sie. Gerade 50 geworden, sah sich die vierfache Mutter in einer gescheiterten Ehe und beschloss, Israel zu verlassen und nach London zu ziehen.
Statt sich verzweifelt ins Bett zu legen und, wie sie es beschreibt, »auf eine Depression zu warten«, raffte sie sich auf und suchte nach einer neuen Perspektive. So fing sie nicht nur an, Gartenbau zu studieren, sondern begann auch mit ihrer heutigen hauptberuflichen Tätigkeit: In einem wilden Garten hinter einem riesigen Betonwohnkomplex in Nordkensington betreut sie seit einigen Jahren mit ihrer Gartenarbeit Menschen mit psychischen Problemen. Die Imkerei betreibt sie als Hobby. Nach dem Ende ihrer Ehe und dem Umzug nach London habe sie sich neu erfinden müssen, sagt Kestenbaum.
Nach einer Erneuerung suchte damals auch die New North London Synagogue. Die Bienen und der Honig sollten dabei helfen. So wie Rabbi Wittenberg hoffte, dass das Imkern seiner Gemeinde eine engere Verbundenheit mit der Natur schenken würde, so glaubte einer von Kestenbaums Mitstreitern, dass sich durch das gemeinsame Imkern die Kluft zwischen den verschiedenen jüdischen Gemeinden der Gegend überwinden lasse.
Das seien ja alles »recht nette Ideen«, sagt Kestenbaum, doch sie erlebt die Honigwirtschaft keineswegs »als süßes Naschen, sondern als Knochenarbeit«.
schutzanzug Um zu zeigen, wie schwer er ist, hebt sie den Bienenkasten ein wenig nach oben. Solche Kästen müssten jede Woche umhergetragen, gelegentlich repariert oder auch neu gebaut werden, sagt sie. Mindestens zwei Stunden pro Woche werde so für die Honigwirtschaft geschuftet. Darüber hinaus muss sie die Bienen, ihre Gesundheit und die Waben gründlich überprüfen – und all das im Schutzanzug. Sollte ein Schwarm ausreißen wollen, so muss sie bereitstehen und versuchen, dies zu verhindern.
Dass der große Enthusiasmus, der anfangs in der Gemeinde herrschte, aufgrund des hohen Arbeitsaufwands ein wenig verflogen zu sein scheint, überrascht Kestenbaum kaum. Oft muss sie nun die Arbeit allein erledigen. Doch sie bedauert das nicht. »Ich habe im Laufe der Jahre immer wieder gehört, wie von mir als der ›Frau, die unseren Honig macht‹, gesprochen wurde – das empfinde ich als Anerkennung.«
An Rosch Haschana steht der Gemeindehonig auf dem Tisch.
Routine Doch nun, wo alles endlich in Schwung gekommen und bei Kestenbaum eine gewisse Routine eingekehrt ist, sieht es so aus, als seien ihre Tage als Imkerin gezählt. »Ich habe in den letzten Monaten nach Bienenstichen zweimal allergisch reagiert und einen anaphylaktischen Schock erlitten. Ich muss das Imkern deshalb an den Nagel hängen, denn es könnte lebensgefährlich für mich sein«, sagt sie.
Sie betont, es sei keineswegs die Schuld der Bienen. »Ich war beide Male nicht konzentriert genug bei der Sache und habe meine Schutzkleidung nicht ordentlich angelegt.«
Natur Das Ende ihres Imkerns sieht Kestenbaum nicht nur negativ. »Die Natur hat mich gelehrt, nicht stur zu sein, sondern ihre Rhythmen und Zyklen zu akzeptieren.« So könne man es auch in der Tora lesen, die aus einer Zeit stammt, als die Menschen der Natur sehr nahestanden. Wie sie mit der Natur umgegangen seien, habe manchmal direkt zur Folge gehabt, dass sie hungerten oder gestorben sind, sagt sie.
»Kein Wunder, dass Äcker und Felder nach sieben Jahren brachliegen und ruhen sollen«, glaubt sie. Was die Bienenstöcke im Garten der Synagoge betrifft, so passt das zeitlich gut in ihre Pläne. Denn gerade sind sieben Jahre um, und Kestenbaum braucht jetzt jede freie Minute für ihr Engagement bei »Extinction Rebellion«, einer sozialen Bewegung, die mit Mitteln des zivilen Ungehorsams auf die Klimakrise aufmerksam macht.