Tschechien

František Kafka

Die Anekdote erzählt man sich gern in Prag, sie handelt von einer amerikanischen Studentin. Ein Jahr lang quält sie sich bei ihrem Auslandsstudium durch die Tücken der tschechischen Sprache, und als sie dann eines Abends in der Kneipe gefragt wird, warum sie denn ausgerechnet Tschechisch lernt, antwortet sie mit heiligem Ernst: »Weil ich endlich Kafka im Original lesen will!«

Ein paar Jahre alt ist diese Geschichte, und sie gehört zum Kafka-Kolorit, das sich in Prag anlagert. Beispielhaft zeigt sie, wie schwierig es ist, Franz Kafka zu fassen: Für die Deutschen ist er der Prager Autor, für die Tschechen der deutschsprachige Schriftsteller, und selbst zur Frage, ob er nicht gar ein Sudetendeutscher war, gibt es mittlerweile wissenschaftliche Aufsätze.

Dieses Zwischen-den-Welten-Wandern passt gut zum Image Franz Kafkas als geheimnisumranktem Autor, der sich nie ganz entschlüsseln lässt. Und so gehen selbst diejenigen, die noch nie zumindest ein ganzes Kapitel Kafka-Lektüre durchgehalten haben, mit andächtigem Schauer auf Spurensuche in Prag.

Im Kommunismus war Kafka eine Chiffre für die politischen Verhältnisse.

Der Startpunkt für die Kafka-Betrachtungen ist unweigerlich ein Haus mitten im touristischen Zentrum: Dort, am heute nach ihm benannten Platz, steht sein Geburtshaus, an dessen Fassade eine bronzene Büste an ihn erinnert.

Von hier aus sind alle Prager Fixpunkte aus Kafkas Leben fußläufig zu erreichen: die Arbeiterunfallversicherung, in der er als Jurist arbeitete und deren palastartiges Gebäude heute ein nobles Hotel beherbergt; die Assicurazioni Generali, auch bei ihr war er angestellt, sitzt längst nicht mehr am einstigen Stammhaus am Wenzelsplatz, aber wer genau hinschaut, sieht oben noch in der Stuckverzierung den Schriftzug von einst an der Fassade prangen; das Kaffeehaus Arco, in dem Kafka an Literatenzirkeln teilnahm; die Schwimmschule an der Moldau, wo er seinem geliebten Hobby nachging; die Synagogen im früheren jüdischen Viertel – alles ist an seinem Platz genauso wie zu Kafkas Lebzeiten. »Das Mütterchen hat Krallen«, so begründete er selbst seine lebenslange Bindung an seine Heimatstadt, und dieser Ausspruch über Prag wurde so oft zitiert, dass er heute schon reichlich abgegriffen wirkt.

Dabei war Kafkas Prag noch eine andere Stadt. »Heute ist Prag durch den modernen Verkehr völlig entstellt, die Häuser mit Reklame verhängt«, sagt Hartmut Binder. Der emeritierte Professor ist einer der führenden Kafka-Forscher, und besonders fasziniert ihn die Frage, wie die Stadt damals aussah, als Franz Kafka in den Kopfsteinpflasterstraßen unterwegs war.

Eine Antwort darauf hat er gerade vorgelegt: Ein Leben in Bildern heißt sein Buch, das im Prager Vitalis-Verlag erschienen ist, und er hat darin mehr als 1500 Fotos zusammengetragen. In einem Teil des Bandes widmet er sich Personenfotos – Bekanntschaften von Franz Kafka, Begegnungen, Weggefährten sind darin abgebildet. Und dann sind da die Prager Fotos: »Es soll ein Spaziergang durch Franz Kafkas Leben sein«, so nennt es Hartmut Binder. Er hat die Wege rekonstruiert, die Kafka regelmäßig ging, und sie anhand alter Postkarten und anderer historischer Fotografien rekonstruiert: über die Kleinseite hinauf zum Hradschin, dem majestätischen Burgberg hoch über der Moldau. Oder auch von seiner Wohnung aus hinauf zum Vysehrad-Felsen am Rand des Zentrums.

Eigentlich sind es zwei Prags, die Kafka erlebt hat

Dabei sind es eigentlich zwei Prags, die Kafka erlebt hat, gibt Hartmut Binder zu bedenken: »In seiner Kindheit gab es noch das Prager Ghetto«, sagt er – das alte jüdische Viertel mit den engen, einfachen Häuschen, gelegen in einem feuchten Eck der Stadt nahe der Moldau. Und dann, um die Jahrhundertwende, wurde dieses Ghetto »assaniert«, wie es damals hieß: abgerissen also und mit prachtvollen Neubauten aus der Gründerzeit überbaut. »Es entstanden Bankgebäude, Hotels und Kaufhäuser – Prag wurde zu einer modernen Stadt«, sagt Binder.

Und Kafka stand mittendrin in diesem gewaltigen Wandel, der das einstige Judenviertel mit repräsentativen Wohnhäusern überzog, die heute zu den teuersten Adressen der Stadt gehören. Das alte Ghetto ist nur noch auf ein paar Hundert Metern zu erahnen zwischen der ältesten Synagoge, der Altneu-Schul, und dem alten jüdischen Friedhof. »Es gibt nur sehr wenige Fotos, die die Atmosphäre des ursprünglichen jüdischen Viertels vermitteln«, sagt Binder.

Seine eigene Suche nach Franz Kafkas Prag begann im Jahr 1983, noch tief in kommunistischen Zeiten. Anlässlich seines 100. Geburtstags gab es eine große Kafka-Tagung in der Nähe von Wien, und Hartmut Binder hatte vor seinem Rückflug nach Deutschland noch Zeit. »Es war Pfingstsamstag, und da hatten damals sogar die Museen geschlossen«, erinnert er sich. »Also bin ich auf einen Flohmarkt gegangen – und entdeckte dort alte Prag-Postkarten.«

Für ihn war das der Beginn einer regelrechten Jagdleidenschaft: Er erkannte auf einen Schlag, dass er durch die raren Postkarten in Kafkas Kindheit und Jugend eintauchen kann; dass sie eine Zeitmaschine zurück in die Tage der alten Donaumonarchie sind. Fortan durchstöberte Binder auf Flohmärkten und spezialisierten Messen Abertausende Fotos, um die richtigen Exemplare zu finden. Auch alte Stadtpläne suchte er, auf denen er die Wohnungen von Kafka und seinen Freunden markierte. Über viele Jahre trug er so eine gewaltige Sammlung zusammen, die inzwischen im Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird – und die Grundlage bildet für den jetzt neu erschienenen Band.

Vermittler zwischen beiden Ländern und beiden Kulturen

Fast 500 Kilometer östlich von Marbach, in der tschechischen Stadt Ústí nad Labem, herrscht Trubel in der Aula des Gymnasiums Jateční. Eine Gruppe von Abiturienten aus Braunschweig ist zu Gast, gemeinsam beschäftigen sich die Schüler mit Franz Kafka. Der Austausch wird unterstützt vom deutsch-tschechischen Zukunftsfonds – Kafka, so das Kalkül, eignet sich perfekt als Vermittler zwischen beiden Ländern und beiden Kulturen.

Heute steht er auf dem Lehrplan an Gymnasien – in tschechischer Sprache.

Und tatsächlich steht »František Kafka« auch in Tschechien auf dem Stundenplan, wie Lehrerin Sarka Hujova erzählt – allerdings in tschechischer Übersetzung. Beim Schüleraustausch geht es um einen ganz speziellen Aspekt in Kafkas Leben: um seine Verbindung in die nordböhmische Region. Er war oft auf Dienstreise bei den Textilfabriken in der Region, in denen er als Angestellter einer Unfallversicherung abschätzen sollte, wie sicher die Arbeitsbedingungen waren.

Seine Schwester lebte in Nordböhmen, und auch seinen Onkel besuchte er öfter. (Ein folgenschwerer Kontakt, haben Forscher herausgefunden: Er bekehrte seinen Neffen dazu, vegetarisch zu leben.) Und auch im Sanatorium Libverda war Franz Kafka zu Gast. »Ich wusste gar nicht«, sagt Max, einer der tschechischen Schüler, »dass Kafka eine Beziehung hier zu uns nach Nordböhmen hatte. Ich habe ihn immer nur mit Prag verbunden.«

Eine Chiffre für politische Verhältnisse, über die nicht offen diskutiert werden durfte

Dass Kafka zum kulturellen Kanon gehört, ist in Tschechien eine recht späte Errungenschaft. Die Kulturpolitik des Landes fremdelte lange mit dem berühmten Prager Sohn. Erst 1963 kam er überhaupt ins Gespräch, bis dahin wurde er von den Kommunisten absichtlich kaltgestellt. Damals trafen sich Prager Germanisten – viele von ihnen wie der Haupt-Organisator Eduard Goldstücker jüdischer Herkunft – im Schloss Liblice zu einer Kafka-Konferenz. Von ihr ging eine gewaltige Woge aus, es begann eine offene gesellschaftliche Diskussion – und Kafka wurde zu einer Chiffre für politische Verhältnisse, über die nicht offen diskutiert werden durfte.

»Das Interesse an der Kultur ersetzte die Einmischung in die Politik, die nicht möglich war«, sagte der Historiker Oldřich Tuma vom Prager Institut für Zeitgeschichte, als es 2008 zu einer feierlichen Neuauflage der Liblicer Konferenz kam: »Deshalb stand in den 60er-Jahren sogar ein Autor wie Kafka, der sich ja mit seinem Anspruch eigentlich nicht an ein großes Publikum richtet, im Mittelpunkt des Interesses.«

Aufgehängt an Kafkas Werk begann damals eine Debatte über die menschliche Entfremdung. Ein Tabubruch war das, denn im marxistischen Sprachgebrauch war die »Entfremdung« für den Kapitalismus reserviert. Jetzt auf einmal wurde auch der Sozialismus kritisch hinterfragt, und auf einmal stand Kafka im Treibsand der politischen Vereinnahmung. Schon allein deshalb sorgte die Kafka-Konferenz damals weit über die Tschechoslowakei hinaus für Furore.

»Kafka war ein höchst verdächtiger Autor, weil von ihm niemand wusste, wo man ihn einordnen sollte.«

Alexej Kusak

Wahrscheinlich, so erklärte es sich Alexej Kusak, war das sozialistische Regime einfach überfordert mit Franz Kafka, dem deutschsprachigen Schriftsteller aus Prag. Der inzwischen verstorbene Kusak war einer der Veranstalter der Konferenz von 1963, und auch bei der Neuauflage im Jahr 2008 war er dabei. »Kafka war ein höchst verdächtiger Autor, weil von ihm niemand wusste, wo man ihn einordnen sollte«, so erklärte er sich den Wirbel im Rückblick: »War er ein bourgeoiser Schriftsteller, verbreitete er dekadente Gedanken oder verdarb er sogar die Jugend?«

Franz Kafka jedenfalls wirkt nicht nur bis in die hohe tschechische Politik hinein, sondern auch in die Kunst – und das bis heute. Zu sehen ist das im Prager Kulturzentrum Dox, einem Zentrum für zeitgenössische Kunst. »Wir wussten, dass wir keine Ausstellung von Kafkologen machen wollten, die mehrere analytische Blickwinkel umfasst«, sagt Leoš Válka, der Kurator der Ausstellung Kafkaesque, die noch bis September zu sehen ist. Er wollte bewusst die klassischen Kategorien sprengen. »Eines unserer übergeordneten Themen ist stattdessen die Nicht-Greifbarkeit von Kafka.« Im Vordergrund steht der individuelle, ganz subjektive Blick auf Franz Kafka.

Einer der Blickfänger ist eine Installation mit Megafonen, an zwei Stangen meterhoch übereinandergestapelt, aus jedem tönen Kafkas Texte, ein dröhnendes Durcheinander. 30 Künstler aus aller Welt sind an der Ausstellung beteiligt, und jeder verbindet persönliche Erlebnisse und Aha-Momente mit Franz Kafka. »Mindestens die Hälfte der Künstler hier in der Ausstellung bezeichnet ihn als grundlegende Figur in ihrem Leben, die auf tiefgreifende Art ihre Entwicklung beeinflusst hat – als Künstler, als Menschen«, sagt Leoš Válka. Für ihn steht fest: »Kafka ist ein ewiges Thema!« 90 Jahre alt ist der älteste der beteiligten Künstler, 30 Jahre alt der jüngste. Für den erfahrenen Ausstellungskurator ist das ein Zeichen: »Kafka«, sagt er, »wirkt einfach auf alle!« Und daran hat sich auch 100 Jahre nach seinem Tod nichts geändert.

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