Die Geschütze waren schnell in Stellung gebracht und schossen scharf. Der Präsident der französisch-jüdischen Dachorganisation CRIF, Francis Kalifat, warnte Anfang vergangener Woche, dass dies kein einfacher Ausrutscher mehr sei, es handele sich hingegen um offensichtlich verschwörerische Äußerungen: »Jean-Luc Mélenchon setzt seinen Absturz in den Komplottismus fort, das ist eine sehr ernste Gefahr.« Frankreichs Oberrabbiner Haïm Korsia sprach von »einer Sphäre der Hyperverschwörung, die eine Form eines unerträglichen Antisemitismus in sich trägt«.
Der Bürgermeister von Toulouse, Jean-Luc Moudenc, bescheinigt dem Chef der Linkspartei LFI, »La France insoumise« (Unbeugsames Frankreich), einen ungeheuerlichen Realitätsverlust, wenn er in den Problemen der Sicherheit und des Islamismus das Ergebnis einer absichtlichen Beförderung durch das politische System zu erkennen glaubt.
toulouse Und für Patrick Klugman, den Anwalt der Hinterbliebenen des Attentats auf eine jüdische Schule in Toulouse im März 2012, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen, ist die Aussage des LFI-Präsidentschaftskandidaten »Spucke auf das Grab der Opfer«.
Klugman, der auch Pariser Lokalpolitiker ist, werde Klage gegen Mélenchon einreichen. »Wenn wir diese Aussage ohne Antwort belassen, dann lassen wir zu, dass ein Attentat und seine Opfer durch einen politisch Verantwortlichen aus der ersten Reihe umgedeutet werden.«
Mélenchon feuerte zurück: Dies sei einmal mehr ein »buzz affligeant«, ein trauriger Hype, aufgebauscht von »einigen einflussreichen Leuten« aus dem System und ihren politischen Handlangern.
WAHLEN Jean-Luc Mélenchon hatte Anfang des Monats dem Hörfunksender France Inter gesagt: »Es wird kurz vor den im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen zu einem schwerwiegenden Vorfall oder einem Mord kommen.« Es werde ein Ereignis sein, das einmal mehr erlaube, mit dem Finger auf Muslime zu zeigen und so zu tun, als befände sich Frankreich in einem Bürgerkrieg.
Dann zählte er seine Beispiele auf: der Überfall auf den Rentner Paul Voise im Jahr 2002, als der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen kurz darauf bei den Wahlen in die zweite Runde gelangte; der Kalaschnikow-Anschlag eines Islamisten auf den Champs-Élysées 2017, bei dem ein Polizist ums Leben kam; und den Terror von Toulouse 2012. Nach dieser Aufzählung folgte der kurze Satz, der der ausgelösten Entrüstung ihre Wucht verlieh: »All das ist vorab festgeschrieben.«
Seither rätselt man in Frankreich über die Motivation des linken Präsidentschaftskandidaten von 2022: Was will er mit seiner These von kurz vor den Wahlen orchestrierten Attentaten erreichen? Polemische Taktik, um sich die nicht unerheblichen Stimmen der französischen Muslime zu sichern, dümpelt doch Mélenchon bei den Umfragen bei elf bis zwölf Prozent, wo er 2017 noch knapp 20 Prozent geholt hatte? Oder war es weniger Kalkül als vielmehr sein Temperament, das dafür sorgte, dass seine oft so lose Zunge mit ihm durchging? Oder offenbart sich tatsächlich darin ein tief verwurzelter Verschwörungsglaube?
ISRAEL-BOYKOTT Für die französischen Juden ist Mélenchon ohnedies ein alter Bekannter. Er und seine Partei unterstützen die BDS-Bewegung, die zum Boykott israelischer Waren und Institutionen aufruft, und aus seiner persönlichen Haltung zum verfassten Judentum hat er nie ein Hehl gemacht. Den CRIF, den politischen Vertreter der französischen Juden, bezeichnete er schon des Öfteren als »Kommunauteristen«, also eine in sich separatisch gesinnte, abgeschottete Gemeinschaft.
Ist Mélenchon ein Antisemit, ein Taktiker oder ein Fallensteller?
In Erinnerung bleibt Mélenchons Pressemitteilung nach der Wahlniederlage von Jeremy Corbyn in Großbritannien 2019, wonach der Labour-Chef seine Zeit mit Rechtfertigungen für seinen angeblichen Antisemitismus gegenüber den jüdischen Vertretern vertan habe: »Renten nach Punktwerten, das deutsche und neoliberale Europa, der grüne Kapitalismus, das In-die-Knie-Gehen vor den selbstherrlichen Ukassen des kommunautaristischen CRIF – ich sage Nein.«
Welche Rolle der CRIF in den Wahlen zum britischen Unterhaus gespielt haben soll? Die Antwort blieb Mélenchon damals schuldig. Was seine Äußerung aber wohl trotzdem widerspiegelt, ist genau das, was Francis Kalifat nun nochmals unterstrich: ein Weltbild, in dem Verschwörungserzählungen einen festen Platz einnehmen.
streitschrift Meist sind darin »Oligarchen« am Werk, die etwa den »Rothschild-Banker« Macron zum Präsidenten machen. Und selbst Angela Merkel, die für Mélenchon kaum mehr ist als der Büttel der deutschen Industrie und Großmannssucht, hat in seiner Streitschrift Le hareng de Bismarck – Le poison allemand (Der Bismarckhering: das deutsche Gift) 2015 seine scharfe und historisch willkürliche Rhetorik zu spüren bekommen.
Die Anhängerschaft des »Unbeugsamen Frankreich« dürfte aber selbst der jetzige Ausrutscher des Parteichefs um den bestellten Terror in ihrer Treue kaum ins Wanken bringen. Verschwörungsmythen wird in Frankreich schon immer größerer Erkenntniswert zugemessen als in Deutschland, zumal sie dort auch weniger esoterisch und verquer daherkommen. An den großen Rädern der Welt drehen darin weniger dunkle Mächte als die altbekannten, ob die nun USA, Wirtschaftsbarone oder schlicht »System« heißen.
Und seine Kollegen nahmen Mélenchon sofort in Schutz: Nie hätte er Terrorattacken verharmlost und den Schmerz der Opfer kleingeredet, sagte etwa der LFI-Europaabgeordnete Manuel Bompard. Mélenchon selbst legte – doppeldeutig – nach: »Wir werden niemals auch nur den intellektuellen Terrorismus akzeptieren, der dem physischen Terror immer vorausgeht.«
Ist Jean-Luc Mélenchon ein Verschwörungstheoretiker, ein Antisemit oder ein selbstverliebter Volkstribun, der ganze Hallen zum Kochen bringt? Oder doch eher ein unbeherrschter Choleriker oder gar eiskalter Taktiker? Oder einfach ein gewiefter Fallensteller, der das Spiel der zugespitzten Debatte perfekt beherrscht und nur darauf wartet, dass jemand hineintappt?
Seit geraumer Zeit macht ein Begriff die Runde, der für eine gefährliche Gegenmacht zur Republik stehen soll, dessen Führungsfigur Mélenchon ist: Islamo-Linkentum.
VERQUICKUNG Nicht nur in den konservativen und rechtsextremen Zirkeln hält die griffige Formel Einzug, um auf die Verquickung linker und migrantischer Positionen mit einem radikalen Islamismus zu verweisen. Auch CRIF-Präsident Francis Kalifat bezeichnete Mélenchons Politik des Öfteren als »islamo-linken Klientelismus«. Der Politologe Samuel Hayat von der Universität Lille warnt davor, aus durchaus vorhandenen Überschneidungen verbal eine große Bewegung zu konstruieren: Das sei alles andere als harmlos und erinnere an den Begriff »jüdisch-bolschewistisch«.
Vielleicht aber ist Mélenchon auch einfach nur ein Kind des französischen Wahlsystems und des rauen Klimas im Land. Die politische Landschaft ist zubetoniert und gleichsam genau deshalb so aufgewühlt. Darin bewegt sich der 69-Jährige seit vier Jahrzehnten. Von 2000 bis 2002 war er Minister für Berufsbildung im Kabinett Jospin, Senator, Europaabgeordneter und seit den letzten Nationalwahlen 2017 einer von nur 17 LFI-Parlamentariern in der Nationalversammlung – einer Partei, die immerhin elf Prozent der Stimmen geholt hat.
Doch das Mehrheitswahlrecht verhindert die proportionale Mitsprache selbst größerer Parteien, so auch des rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen. Die kleineren Parteien existieren nur, wenn sie auffallen – und dafür sorgt Mélenchon. So wird es sicher nicht allzu lange dauern, bis sein nächster rhetorischer Ausfall kommt. Man darf gespannt sein, auf wen er zielt – und dann wird ganz Frankreich erneut rätseln, was ihn denn nun wieder dazu getrieben hat.