Exodus – dieses Wort beschreibt, was zurzeit in der ukrainischen jüdischen Gemeinde passiert. Tatsächlich hat die Auswanderung ein Ausmaß angenommen, das an die Zeiten kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren erinnert.
Doch es gibt beträchtliche Unterschiede: Anders als in der Generation ihrer Eltern wollten Tausende ukrainische Juden, die heute auswandern, das Land noch vor einem halben Jahr überhaupt nicht verlassen. Aber etliche von ihnen haben überhaupt keine andere Wahl, als sich woanders niederzulassen, denn sie können nicht mehr an ihren alten Wohnort zurückkehren. Andere hoffen, dass sie nur vorübergehend auswandern, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
Inzwischen bekommt man in Czernowitz wieder mehrmals pro Woche einen Minjan zusammen.
In vielen Familien sind die Mutter und die Kinder ausgereist, der Vater dient im Militär. Diese Familien hoffen, dass sie sich bald wieder vereinen können und dies in einer siegreichen Ukraine geschieht. Doch der Krieg ist in vollem Gange, und ein Ende ist nicht in Sicht.
Von außen könnte man den Eindruck gewinnen, es würde mit der ukrainischen jüdischen Gemeinde demnächst zu Ende sein. Doch das täuscht. Natürlich wird sich die Demografie des ukrainischen Judentums verändern, doch eine echte Entvölkerung bedroht die Gemeinschaft keinesfalls.
STRUKTUREN Die Intensität der Arbeit in den gut organisierten Strukturen der ukrainischen jüdischen Gemeinde und ihr Umfang können durchaus mit gut entwickelten jüdischen Gemeinden in Westeuropa und den Vereinigten Staaten verglichen werden.
Die ukrainisch-jüdische Community hat kürzlich eine Onlineplattform etabliert, auf der darüber diskutiert wird, wie sich die russische Aggression auf die Juden im Land auswirkt. Das Format ermöglicht es den Leitern verschiedener Gemeinden und Organisationen aus allen Regionen des Landes, sich zu vernetzen und über ihre Erfahrungen eines halben Jahres intensivster sozialer und humanitärer Arbeit unter extremen Umständen auszutauschen.
Dabei hat sich herausgestellt, dass die Trends in der Arbeit bei allen ungefähr gleich waren. In den ersten Kriegsmonaten zielten die Bemühungen vor allem darauf ab, Massenrettungen aus Gebieten aktiver Kämpfe zu organisieren, Binnenvertriebene in Zwischenstationen im Zentrum des Landes aufzunehmen und Versorgungsketten zu organisieren, um den Menschen zu helfen, den westlichen Teil des Landes zu erreichen.
Als Folge dieser innerukrainischen Migrationsbewegung kam es übrigens nicht nur zu einer Entvölkerung der jüdischen Gemeinden im Osten des Landes, beispielsweise in Charkiw, sondern auch zu einer gewissen Wiederbelebung kleinerer Gemeinden in westukrainischen Städten, wie Lemberg, Iwano-Frankiwsk oder Czernowitz.
Der Rabbiner von Czernowitz sagt, er erinnere sich nicht, wann seine Gemeinde in den vergangenen 20 Jahren mehr als einmal pro Woche einen Minjan zusammenbekommen habe. Jetzt beherbergen die Czernowitzer Juden eine Gemeinde aus Charkiw, und das religiöse Leben sei viel aktiver geworden.
Im Frühjahr traf über die Kanäle internationaler jüdischer Organisationen humanitäre Hilfe aus dem Westen ein. Die Räume der Gemeinden haben sich in Lager für Lebensmittel, Medikamente, Hygieneartikel und Kindersachen verwandelt. Die Gemeinden stellten Listen von Bedürftigen zusammen, entluden und lieferten Hunderte von Tonnen Hilfslieferungen.
Jüdische Organisationen helfen inzwischen gezielter als am Anfang.
In den vergangenen Monaten hat sich die Frontlinie eher stabilisiert, und der Zustrom von Binnenvertriebenen beginnt sich abzuschwächen. In den befreiten Regionen im Norden des Landes normalisiert sich das Leben, und die Notversorgung der Bewohner abgelegener Städte ist nicht mehr relevant.
Gleichzeitig ist die Kommunikation mit den von der russischen Armee besetzten Gebieten im Osten und Süden vollständig eingestellt worden. Es ist inzwischen nicht mehr möglich, dort humanitäre Hilfe zu leisten. Die Menschen versuchen weiterhin, die besetzten Städte zu verlassen, aber jetzt müssen sie weitaus längere Wege zurücklegen.
Initiative Die ukrainisch-jüdische Gemeinde hat sich auf eine gezieltere Hilfe umgestellt. Ein Beispiel ist eine Initiative des Vaad, des Verbands jüdischer Gemeinden und Organisationen der Ukraine. Dabei geht es um ein Programm für Familien, die vom Krieg schwer getroffen wurden und psychologische Unterstützung benötigen. Es besteht aus zwei Komponenten: einem Projekt für vertriebene Familien, die durch den Krieg ihren Ernährer verloren haben, und einem Projekt für Frauen mit Kindern, die psychologische Unterstützung benötigen aufgrund von Belagerung, Besatzung, Bombenangriffen, des Todes eines Familienmitglieds, des Verlustes der Wohnung oder Situationen, in denen Frauen und Kinder Kriegsverbrechen miterlebt haben. Das Programm bietet einen zehntägigen Aufenthalt in den Karpaten, einer sicheren Region, wo Psychotherapeuten mit den Familien arbeiten.
Nach mehr als einem halben Jahr Krieg glauben viele Juden in der Ukraine: Krisenzeiten mobilisieren und festigen. Die Gemeinde in der Ukraine fühlt sich von der jüdischen Welt stark unterstützt und ist dankbar dafür. Ihre gesamte Arbeit wäre ohne die organisatorische, logistische, fachliche und vor allem finanzielle Unterstützung aus dem Ausland nicht möglich.
Der Autor ist Historiker und Journalist in Kiew. Er dokumentiert die aktuellen Kriegsverbrechen in der Ukraine.