Die Sonne schien noch klar und hell, doch etwas lag schon in der Luft, als Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Miami Beach kamen und die pinkfarbenen Kuba-Flamingos in dem kleinen Park, auf den Rachel Levine aus ihrem Wohnzimmerfenster schaut, zusammentrieben. Da wusste Levine: »Es geht bald los. Der große Sturm kommt.«
Irma war nicht der erste Hurrikan, den Rachel Levine und ihr Mann Zadek gesehen haben. Da waren Andrew, Charley, Katrina oder Sandy, die alle kamen und gingen und mehr oder weniger tiefe Spuren der Verwüstung hinterließen – auch an dem kleinen Haus, das die Eheleute vor gut 30 Jahren gebaut haben, nur ein paar Blocks vom Meer entfernt.
geisterstadt Aber Rachel und Zadek sind immer geblieben, so wie dieses Mal auch. Haben sich eingedeckt mit Wasser, Konserven und Batterien. Sie haben ihre Fenster und Türen mit Sperrholz vernagelt. »Wir würden unser Haus nie im Stich lassen«, sagt die 85-Jährige ein paar Tage später am Telefon, als Irma bereits über Florida hinweg ins Landesinnere gezogen ist. Sie hat den Holocaust überlebt; die Stürme machten ihr keine Angst, sagt sie. Am Freitagabend, als Miami Beach längst zur Geisterstadt geworden war und alle ihre Bekannten geflohen waren, zündeten Rachel und Zadek die Schabbatkerzen an.
Gehen oder bleiben, das Haus evakuieren oder sich einbunkern – vor dieser Frage standen alle Bewohner der Küstenstädte im US-Bundestaat Florida, als sich Hurrikan Irma, einer der stärksten Wirbelstürme seit vielen Jahren, in der vergangenen Woche von der Karibik kommend dem Festland näherte. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Florida – insbesondere die orthodoxen unter ihnen – standen dabei vor einem ganz besonderen Dilemma. Denn: Der Tag, an dem Irma über Florida wüten würde, war der Schabbat. Da ist es nicht erlaubt, Auto zu fahren oder zu reisen. Doch Ausnahmen sind möglich – in Notfällen und lebensbedrohlichen Situationen.
Als ein solcher galt, ohne Zweifel, Irma. Und so gab es grünes Licht von hoher Stelle: Der einflussreiche aschkenasische Rabbiner Chaim Kanievsky (89) versandte aus seinem Haus im israelischen B’nei B’rak eine Videobotschaft an seine ultraorthodoxen Anhänger und gab ihnen darin die Erlaubnis, den Aufforderungen der Behörden in den gefährdeten Gebieten am Schabbat zu folgen und sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Die Evakuierungsbewegung, die sich Mitte vergangener Woche in Gang setzte, dürfte zu den größten in der Geschichte der USA zählen und die größte sein, die es jemals in Florida gegeben hat.
Statistik Mit rund 3,3 Prozent liegt der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Florida über dem amerikanischen Durchschnitt von zwei Prozent. Allein im Süden Floridas leben etwa 515.000 Juden. Hier gibt es fast 200 Synagogen. Vor allem die orthodoxen Gemeinden sind im »Sunshine State« stark vertreten.
Bleiben oder gehen – diese Frage stellte sich nicht nur für die jüdischen Bewohner der Hurrikan-Gebiete. Mitarbeiter zahlreicher Synagogen nahmen auch ihr kostbarstes Gut, die Torarollen, mit auf die Reise. Immer wieder waren in früheren Wirbelstürmen Torarollen vernichtet worden.
Stephanie Alexander, Rabbinerin von Kahal Kadosh Beth Elohim in der Küstenstadt Charleston, South Carolina, einer der ältesten Synagogen in den USA, hat lange überlegt, ob und wie sie und ihre Kollegen die kostbare Sefer Tora transportieren sollen. »Aber nach all unseren Erfahrungen haben wir entschieden: Sie ist am sichersten dort aufgehoben, wo sie hingehört: hier in der Synagoge«, sagt die Rabbinerin. Da lagert sie jetzt, fest verpackt in einer extra Schicht Plastik, im hölzernen Toraschrein und wartet auf die Rückkehr der Gemeinde.
hilfsorganisationen Vor allem orthodoxe Juden aus Florida flohen nach Atlanta, in die Hauptstadt des Bundesstaates Georgia, gut 1000 Kilometer, knapp zehn Autostunden, von Miami entfernt. Dort hatten sich die Mitarbeiter jüdischer Hilfsorganisationen und Gemeindezentren, Rabbiner und zahlreiche Freiwillige auf die Ankunft von mehr als 1000 Juden aus den Hurrikan-Gebieten vorbereitet.
»Wir wollen ein sicherer Zufluchtsort für die Gestrandeten sein«, sagte Adam Starr, Rabbiner der Gemeinde Young Israel in Toco Hills, einem Stadtteil von Atlanta, in dem viele orthodoxe Juden leben. »Wir wollen ein Ort sein, an dem die Menschen den Schabbat feiern können und wissen, dass die Kaschrut wirklich eingehalten wird.« Starr und sein Kollege Ilan Feldman, Rabbiner in der benachbarten orthodoxen Synagogengemeinde Beth Jacob, waren gerade erst aus Houston zurückgekehrt, wo sie den dortigen Gemeinden bei den Aufräumarbeiten nach den Verwüstungen durch Hurrikan Harvey geholfen hatten.
Zahlreiche Synagogen und jüdische Gemeindezentren, darunter auch das Chabad Israeli Center in Atlanta, statteten ihre Räumlichkeiten mit Feldbetten und Luftmatratzen aus. Freiwillige suchten über soziale Medien Gastfamilien für die Evakuierten.
Ferner veranstalteten zahlreiche Synagogen, von orthodoxen über konservative bis zu Reformgemeinden, am Freitagabend Schabbatdinner für die Evakuierten. Die Orthodox Union (OU) in New York hatte zuvor eine Lastwagenladung mit koscheren Lebensmitteln im Wert von 25.000 Dollar nach Atlanta geschickt, darunter 1200 Challot, 300 Pfund Hühnerschnitzel und 20 Kisten Joghurt. »In Krisenzeiten rücken die Menschen zusammen«, sagte Yehuda Friedman, Regionaldirektor bei der OU.
Krisenberatung Nicht nur für Essen und Unterkunft ist gesorgt: Die kommunale Sozialorganisation Jewish Famliy & Career Services (JFCS) in Atlanta bietet Evakuierten auch in den nächsten Tagen und Wochen Krisenberatung und psychologische Betreuung an. Das Marcus Jewish Community Center im Norden der Stadt verteilte Freikarten für Konzerte, Lesungen, Kinderprogramme sowie für die Nutzung des Fitness-Centers und Freibads an Evakuierte aus den Hurrikan-Gebieten.
Diese konnten jedoch zumindest am Montag und Dienstag wenig von den Angeboten ihrer Gastgeber nutzen. Denn mittlerweile war Hurrikan Irma weiter ins Landesinnere gezogen – und sorgte auch in Atlanta für heftige Regenfälle und Windstärken von bis zu 95 Stundenkilometern. Bäume und Strommasten stürzten auf die Straßen; Schulen, Universitäten und Behörden, aber auch Geschäfte und Gemeindezentren blieben geschlossen.
Derweil beginnen Rachel Levine und ihr Mann Zadek in Miami Beach mit den Aufräumarbeiten. Sie haben dieses Mal Glück gehabt, der Sturm hat nur ein paar Ziegel vom Dach ihres Hauses gerissen, und einige Holzbalken auf ihrer Veranda sind zersplittert. »Sehen Sie«, sagt Rachel, »es ist doch gut, dass wir geblieben sind.« Und bald, sagt sie, könne sie von ihrem Wohnzimmerfenster aus bestimmt auch wieder die Flamingos anschauen.