Kalkutta

Flowers Power

Selbst einer 85-jährigen Dame mit schlohweißem Haar und dem poetischen Namen Flower Silliman kann der Zutritt zum Reich der Toten verwehrt werden. Auch dann, wenn sie energisch mit ihrem Gehstock gegen die Tür schlägt und dabei wüste Worte gegen die Blechwand und den dahinter liegenden jüdischen Friedhof ausspricht. Wer einen Blick durchs Schlüsselloch wagt, der schaut in ein braunes Augenpaar, das weder besonders wütend noch irgendwie überraschend wirkt. Nur eben unnachgiebig.

»Mit meiner Mutter als Stadtführerin haben Sie mehr Spaß als mit mir«, hatte Flower Sillimans Tochter Jael, eine schwarzgelockte Frau Anfang 60, einige Stunden vor dem vergeblichen Friedhofsbesuch erklärt.

Zuvor hatten der Gast aus Europa und die Frau, noch ehe die Sonnenstrahlen durch den Smog hindurch auf die staubigen Straßen brannten, im Großstadt-Dschungel Kalkuttas nach architektonischen Schmuckstücken gesucht, die einst die Hauptstadt von Britisch-Indien verschönerten und das kulturelle Leben bereicherten.

Geschichte Weil die Zeit drängte, hatte der Stadtrundgang in einem schwarzen Wagen der legendären Marke »Hindustan Ambassador« begonnen. Jenes Fahrzeug versinnbildlicht ein Stück weit auch die Geschichte, von der hier die Rede ist.

Die Produktion dieses stilvollen Kultautos, einst als König der indischen Straßen betitelt, wurde 2014 einstellt. Dies geschah genau ein Jahr nach dem Tod von David Elias Nahoum, der mit seiner beliebten Konditorei jahrzehntelang Angehörigen aller Religionen in der »Stadt der Paläste« süße Freuden bereitete: mit koscheren Mandelmakronen zu Pessach, Früchtekuchen zu Weihnachten oder dem sirupartigen, lokalen Rasgulla-Dessert, besonders beliebt während des Hindu-Festes zu Ehren der Göttin Durga.

Bekanntlich lässt das Rad der Geschichte berühmte Automarken ebenso verschwinden wie beliebte Geschäfte untergehen, herrliche Herrenhäuser gleichermaßen verfallen wie kosmopolitischen Geist verblassen und eben auch namhafte wie weniger bekannte Menschen entschlafen. Wenn die Zeit dafür gekommen ist.

Übrig bleiben museumsähnliche Oldtimer, mit Moos bewachsene Kolonialfassaden und die Geschichten und Erinnerungen der späteren Generation über die Bewohner und ihre Stadt, die auf der Höhe des britischen Weltreichs auch St. Petersburg des Ostens genannt wurde.

Flower und Jael Silliman haben einen anderen, weniger melancholischen Zugang zu den Themen Verfall und Verlust. Und das ist offenbar überlebenswichtig in dieser Stadt, die, so scheint es, ständig auf der Suche nach dem Anschluss an die Moderne ist.

Mutter und Tochter Silliman sind 2009 nach mehr als 35 Jahren im Ausland in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt. Dort lebten einst zwischen 4000 und 5000 Juden. Ungefähr zwei Dutzend von ihnen sind übrig geblieben. »In meiner Kindheit konnten wir zwischen dem Besuch von drei Synagogen wählen«, erzählt Flower, deren aufgeweckte Augen eher denen eines übermütigen jungen Mädchens als denen der Grande Dame einer jüdischen Gemeinde gleichen.

Die meisten Juden in Kalkutta waren Sefarden aus Syrien und dem Irak. Sie brachen im 18. Jahrhundert auf der Suche nach einem besseren Leben als Händler und Kaufleute nach Indien auf. Den ersten, Shalom Cohen, verschlug es 1798 aus Aleppo hierher. Er und die ihm Folgenden lebten in einer Art Grauzone. Sie galten weder als britisch und schon gar nicht als indisch. Flowers Mutter war wie die meisten innerhalb der damaligen jüdischen Gemeinde wenig an Assimilation interessiert. Es versetzte ihr fast einen Schlag, als ihre Tochter nach dem Studium in Delhi mit indischen Kleidern nach Kalkutta zurückkehrte. Doch die Tochter wollte anders sein und ausbrechen aus dem »klaustrophoben Leben«, wie sie es bezeichnet.

In der Schule beispielsweise zog sie das Fach Hindi dem Französischen vor. Noch heute spricht Flower es – und auch Bengali – perfekt, was bei den Einheimischen allenthalben Erstaunen und Bewunderung hervorruft.

Synagoge Die Zeiger der Uhr am ziegelroten Turm der Magen-David-Synagoge sind längst stehen geblieben. Gebaut wurde das imposante Bethaus in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts mit Erlaubnis der jüdischen Gemeindeführung in Bagdad. Allerdings war die Genehmigung mit der Auflage verbunden, der Turm müsse höher sein als die umliegenden Kirchen.

Das Eingangstor ist seit Jahren verriegelt und wird nur für angemeldete Besucher geöffnet. Andächtig überreichen Angehörige einer muslimischen Familie, die hier als Hausmeister nach dem Rechten schauen, dem Gast eine Kippa. Sie betrachten ihn mit einem Blick, der nichts bedeuten soll und doch alles meinen kann. Feierlich und voller kindlicher Freude zünden sie Lichter und Leuchter an, dass dem Betrachter vor lauter Pracht der mit Mosaik verzierten Marmorböden, strahlenden Kerzenständer und leuchtend-bunten Glasfenster fast schwindelig wird. Hin und wieder wischt einer der schmächtigen Hauswarte mit den Händen leicht den Staub weg, der sich auf den Holzbänken angesammelt hat. Es sieht aus, als würde er imaginären Gottesdienstbesuchern über die Schultern streichen.

Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erinnert sich Flower, wurde hier im Beisein Hunderter amerikanischer Soldaten Jom Kippur begangen. Zusätzliche Stühle mussten herbeigeholt werden, damit alle einen Sitzplatz bekamen. 70 Jahre später zwitschern Spatzen und erfreuen sich daran, dass plötzlich ein Luftzug in das Gebäude weht.

Andere Eingänge zum Gelände der Synagoge sind von Straßenhändlern blockiert. Weil kaum ein Besucher kommt, haben sie dort ihre Hütten und Stände aufgestellt und verkaufen Armreife, Coca-Cola, Plüschtiere und Plastikeimer in allen Farben. Aufforderungen der jüdischen Gemeinde, den Platz zu räumen, quittieren sie gewöhnlich mit einem fröhlichen Schulterzucken. Dieser Straßenabschnitt gehört jetzt ihnen, und niemand wird sie davon abbringen, ihn freiwillig zu räumen.

Ohnehin haben die meisten Juden das Land nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 verlassen, allerdings nicht wegen Antisemitismus, wie einstimmig aus jüdisch-indischen Kreisen betont wird, sondern weil sie keine Möglichkeiten mehr sahen, wirtschaftlich voranzukommen.

Jael Silliman bemüht sich seit ihrer Rückkehr aus den USA, wo sie als Professorin für Frauenforschung tätig war, um die Bewahrung des kulturellen und historischen Erbes der Gemeinde. Im Rahmen eines Fulbright-Stipendienprogramms hat sie begonnen, ein digitales Archiv zu erstellen, in dem Dokumente, Fotografien und andere Erinnerungsstücke aufgelistet und interessierten Kreisen zur Verfügung gestellt werden. Inzwischen pendelt auch ihre Tochter Shikha immer häufiger zwischen Indien und Amerika: Sie, die Doktorandin in Berkeley, forscht und arbeitet im Bereich Geschlechterstudien und hat jüngst mit der Publikation eines Prozessleitfadens bei häuslicher Gewalt einiges Aufsehen erregt.

Überlebt die jüdische Gemeinde Kalkutta dank Frauenpower? Noch steht, etwas heruntergekommen zwar, aber immerhin, das Ezra-Herrenhaus an der Waterloo-Straße, gleich gegenüber dem einst altehrwürdigen Great Eastern Hotel. Die Ezras allerdings haben der Stadt längst den Rücken gekehrt. Auch eine jüdische Mädchenschule existiert dem Namen nach noch immer, aber es gibt seit 1975 keine jüdischen Schülerinnen mehr. Dank der jüdischen Gemeinde inklusive der Sillimans erhalten jetzt muslimische Mädchen hier ihre Ausbildung.

Miss India Am Ende des anstrengenden Tages lässt sich Flower Silliman in ihrem geräumigen, hellen Wohnzimmer müde aufs Sofa fallen. Dass man ihr den Zugang zu den Gräbern ihrer Vorfahren versperrt hat, ärgert sie noch immer.

Sie hätte dem Besucher gern das Grab von Esther Victoria Abraham gezeigt. Pramila, wie ihr Künstlername lautete, war die erste Miss India und eine der jüdischen Stars von Bollywood, mit großen dunklen, eindringlich ins Leben blickenden Augen. Sie wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Im Vergleich zu ihr ist Flower Silliman mit ihren 85 Jahren geradezu jung. Sie scheint froh darüber zu sein. Denn es ist noch nicht Zeit für sie zu gehen. Sie wird noch gebraucht in Kalkutta, der »Stadt der Freude«, von Juden und Nichtjuden.

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