Anno 1790 besuchte George Washington Newport, eine Hafenstadt in Rhode Island. Der Grund für diesen Besuch: Rhode Island hatte sich bis zuletzt geziert, die kurz zuvor verabschiedete Verfassung der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika zu unterschreiben. Washington hatte deshalb versprochen, er werde diesen winzigen Bundesstaat besuchen, sobald auch er der amerikanischen Föderation beigetreten sei.
Ob Washington in Newport den Fuß über die Schwelle der Synagoge gesetzt hat, die dort 1763 von portugiesischen und spanischen Juden gebaut wurde, weiß man nicht. Doch verlas der Präsident der jüdischen Gemeinde, ein gewisser Moses Seixas, eine Grußadresse: Sir, heißt es dort sinngemäß, wir freuen uns sehr, dass Sie den Revolutionskrieg gegen die Briten gewonnen haben.
Nun würden wir gern von Ihnen hören, dass Sie die Großzügigkeit haben, uns »Kinder aus dem Stamme Abrahams« als Bürger anzuerkennen. Schließlich dürfen wir von Ihrer Regierung, die von der Majestät des Volkes errichtet wurde, erwarten, dass sie »dem Fanatismus keine Billigung, der Verfolgung keine Unterstützung« gewährt.
schlagwort George Washingtons Antwort ist auf den 18. August 1790 datiert. Als guter Politiker erkannte der Präsident ein brauchbares Schlagwort, wenn man es ihm vor die Nase hielt – also wiederholte er: »dem Fanatismus keine Billigung, der Verfolgung keine Unterstützung«. Aber er ging in seinem Brief noch weit darüber hinaus. Es gehe nicht um Toleranz, schrieb er – denn Religionsfreiheit sei ein »inhärentes natürliches Recht«. Nichts, was großzügig gewährt wird!
Es war, als hätte George Washington seinen Goethe gelesen. In Goethes Maximen und Reflexionen heißt es nämlich: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.« Der amerikanische Präsident also duldete nicht; er erkannte an. Und das war, bitte sehr, anno domini 1790, als Toleranz anderswo auf der Welt noch das Beste war, worauf Juden hoffen konnten! Das »Toleranzpatent« Josephs II. war damals gerade einmal acht Jahre alt.
sefardisch Aus Dankbarkeit haben die Juden von Newport angefangen, jedes Jahr am 18. August George Washingtons Brief vorzulesen. In diesem Jahr wurde die Touro-Synagoge in Newport 250 Jahre alt. Es handelt sich damit um die älteste noch aktive Synagoge in den Vereinigten Staaten. Der Gottesdienst ist zwar längst nicht mehr sefardisch – die meisten der rund 100 Gemeindemitglieder, die heute dort beten, sind Aschkenasim –, aber das Innere dieses wunderbaren Gebäudes sieht immer noch ein bisschen wie eine Miniaturausgabe der Portugiesischen Synagoge in Amsterdam aus.
Zur Feier des Jubiläums am Sonntag standen rechts und links vom Eingang zwei Gentlemen in Uniformen aus dem 18. Jahrhundert. Einer von ihnen hielt das Sternenbanner in der Hand, der andere die Flagge des Staates Israel. Überhaupt waren hochwichtige Herrschaften zugegen. Man sah den Bürgermeister von Newport, einen freundlichen Herrn mit gezwirbeltem Schnurrbart; man sah den Gouverneur des Staates Rhode Island sowie einen leibhaftigen Senator aus Washington. Ein Rabbiner, der aus Ägypten stammte, verlas die Adresse von Moses Seixas, und ein schwerreicher älterer Philanthrop stotterte sich durch George Washingtons Antwort. Und dann kam Elena Kagan.
Jiddisch Elena Kagan gehört zu den neun Richtern am Obersten Gerichtshof in Washington. Insgesamt acht Juden haben es bisher diese herausgehobene Position erreichen können; zudem ist sie die vierte Frau in diesem Amt. Sie erzählte, dass ihre Großeltern aus einer Gegend stammten, die »je nach dem Wochentag« mal zu Polen, mal zu Russland gehörte, dass aber ihre Vorfahren nie Polen oder Russen waren, sondern immer Juden. Sie erzählte, dass ihre Mutter, obwohl sie schon in Amerika geboren wurde, nichts als Jiddisch sprach, bis sie zur Schule ging.
Kagan erzählte auch von einem Besuch in Prag; von dem alten jüdischen Friedhof; von den Namen der Tausenden Deportierten aus der Zeit der deutschen Besatzung, die man dort lesen kann. Am Freitagabend, erzählte Kagan, sei sie vom amerikanischen Botschafter zum Essen eingeladen worden. Er residiert in einer Villa, die früher Juden gehörte. Sie erkannten die Zeichen der Zeit und wanderten rechtzeitig aus. Ihre Villa nahmen die Nazis in Beschlag. Nun ist Amerikas Botschafter in Tschechien zufällig praktizierender Jude. Und so wurden in jener ehemals jüdischen Villa in Prag am Freitag die Schabbatlichter angezündet, ein amtierender Botschafter sprach den Wein- und den Brotsegen, eine amtierende Richterin des Supreme Court in Washington sagte »Amen«.
Elena Kagan erzählte auch, wie sie in Israel gefragt wurde, wie es sich denn anfühlen würde, als Jüdin in der Diaspora zu leben. »Normalerweise bin ich nie um eine Antwort verlegen«, so Kagan, »aber da blieb mir die Spucke weg.« Sie fühlt sich in Amerika eben nicht in der Diaspora.
Dem Beobachter aus Europa schossen verschiedene Gedanken durch den Kopf, während er die Richterin in ihrem dunklen Anzug vor dem Toraschrein stehen sah. Er dachte an die deutsche Beschneidungsdebatte – in Amerika in dieser Form undenkbar. (Ein Gericht, das die Brit Mila verbieten würde, wäre in der Neuen Welt ein Objekt allgemeiner Heiterkeit.)
Der Beobachter dachte an das polnische Verbot der Schechita – in Amerika unmöglich. Religionsfreiheit ist in den USA eben nicht etwas, das dem Staat auf dem mühseligen Umweg über die Toleranz erst einmal abgerungen werden musste. Nein, der amerikanische Staat hat sich von Anfang an nicht das Recht angemaßt, über seine religiösen Minderheiten zu bestimmen. Könnte dies einer der Gründe – und vielleicht nicht einmal der unwichtigste – für die Abneigung sein, die manche Europäer diesem großartigen Land entgegenbringen?