Vor der Synagogue de la Paix steht ein Mannschaftswagen der Polizei. Die drei Polizisten, die darin sitzen, schauen gelangweilt auf ihre Handys. Auf der Straße gibt es an diesem Märztag nämlich nichts zu beobachten.
Der Platz vor dem imposanten hellen Quaderbau, den die jüdische Gemeinde nach der Zerstörung der alten Synagoge durch die Nationalsozialisten 1954 errichtete, ist menschenleer und die Türen zum Gemeindezentrum fest verschlossen. 1500 Menschen gehen dort normalerweise jeden Tag ein und aus. »Das ist wie ein kleines Dorf«, sagt Yoav Rossano, der Verantwortliche für die jüdischen Kultstätten im Département Bas-Rhin (Niederrhein). Schulen, Krippen und Vereine haben an der Straßburger Avenue de la Paix ihren Sitz.
Die Straßburger jüdische Gemeinde ist mit rund 15.000 Mitgliedern eine der größten in Frankreich und mit rund 40 Familien, die jedes Jahr zuziehen, die dynamischste. Doch das Coronavirus hat auch hier das Gemeindeleben zum Erliegen gebracht. Keine Brit Milas, keine Bar- und Batmizwas, keine Hochzeiten. Nur Beerdigungen finden noch statt. Viel zu viele momentan, bedauert Rossano, der auch für die jüdischen Friedhöfe zuständig ist. Jeden Tag wird irgendwo im Bas-Rhin, nur sechs Kilometer hinter der deutschen Grenze, ein weiterer jüdischer Toter zu Grabe getragen.
KRISENSTAB Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat die ostfranzösische Region Grand Est, deren Verwaltungssitz Straßburg ist und zu der neben dem Elsass und Lothringen auch Champagne-Ardenne zählen, schon Anfang März zum Risikogebiet erklärt. Am Montag erweiterte das RKI seine Einstufung auch auf die Region Île-de-France und am Dienstag auf ganz Frankreich.
Am 30. März waren im Grand 3940 Menschen infiziert, 816 Patienten starben. Die Krankenhäuser haben nicht genügend Beatmungsplätze, sodass nach Angaben deutscher Katastrophenmediziner in Straßburg Patienten, die älter als 80 Jahre sind, nicht mehr beatmet werden. Auch wenn der Chef der Straßburger Krankenhäuser die Information bislang dementiert, schließen Ärzte in der Region solche Szenarien nicht aus.
Elf der 13 Rabbiner sind erkrankt, der Vorsitzende des Konsistoriums, Maurice Dahan, liegt im künstlichen Koma.
Unter den Kranken in Straßburg sind besonders viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Elf der 13 Rabbiner sind erkrankt, der Vorsitzende des Konsistoriums, Maurice Dahan, liegt im künstlichen Koma. Der Oberrabbiner der Region Niederrhein, Harold Abraham Weill, war selbst zwei Wochen lang Covid-19-Patient.
»Zu Purim haben sich die Beter in den Synagogen getroffen, und viele wurden dabei angesteckt«, sagt Thierry Roos, ein Mitglied des Konsistoriums und Antisemitismusbeauftragter der Region Niederrhein. »Unsere Gemeinde ist sozusagen enthauptet worden.«
Gemeinsam mit einem Krisenstab versucht der engagierte Zahnarzt nun, das Gemeindeleben, so gut es geht, weiter zu organisieren. Mithilfe von rund 100 Freiwilligen organisiert er die Verteilung von Lebensmitteln an diejenigen, die nicht einkaufen gehen können. Außerdem läuft ein Spendenaufruf für alle, denen durch die Krise die Einkommen wegbrechen.
TIPPS Über Radio Judaïca gibt Roos den Gemeindemitgliedern jeden Tag um 13 Uhr Tipps, wie sie sich vor dem Virus schützen können. Das Radio ist einer der wenigen Fäden, die die Gemeindemitglieder verbinden, seit die Schulen und Gotteshäuser im Land, darunter auch die jüdischen Schulen und Synagogen, Mitte März geschlossen wurden. Und zwar nicht nur in Straßburg, sondern im ganzen Land. Eine schwerwiegende Entscheidung für die rund 500.000 Juden, die aus Frankreich das Land mit der größten jüdischen Gemeinde in Europa machen.
»Wir bekamen die Bemerkung zu hören, dass sogar im Krieg einige Synagogen geöffnet blieben«, sagt der Vorsitzende des gesamtfranzösischen Konsistoriums, Joël Mergui, im jüdischen Radiosender RCJ. »Doch im Krieg riskierte man sein eigenes Leben. Diesmal riskiert man, ohne es zu wissen, das Leben der anderen.«
Frankreich gehört zu den am meisten betroffenen Ländern in Europa.
Die Straßburger Neustadt, wo besonders viele Juden wohnen, ist in diesen Tagen wie ausgestorben. Dort, wo sonst jüdische Eltern ihre Kinder spazieren führen, ist alles still. Hier und da unterhalten sich Nachbarn durch das geöffnete Fenster miteinander. Die jüdische Buchhandlung »Shne Or« an der Rue de Bitche hat den Rollladen vor ihrem Eingang heruntergelassen. »Wir nehmen Ihre Bestellungen per Telefon entgegen und machen einen Termin aus«, steht auf einem mit braunem Paketband angeklebten Zettel.
Frankreich gehört mit 40.174 Infizierten und 2606 Toten zu den am meisten betroffenen Ländern in Europa. Seit Mitte März gilt eine Ausgangssperre, die am vergangenen Wochenende bis zum 15. April verlängert wurde. Wer sich außerhalb seiner eigenen vier Wände aufhält, muss eine eidesstattliche Erklärung ausfüllen. Joggen oder Spazierengehen ist nur eine Stunde am Tag im Umkreis von einem Kilometer rund um das eigene Haus erlaubt. Für Besuche bei Familienangehörigen muss es einen »zwingenden Grund« geben. Die jüdischen Altersheime lassen überhaupt keinen Besuch mehr zu. »Man muss eben per Internet mit seinen Angehörigen in Kontakt bleiben«, sagt Roos.
Der Mediziner fordert, das Personal schnell zu testen, um Dramen wie im Altersheim Rothschild in Paris zu verhindern, wo 16 Bewohner starben.
STREAMING Das Internet bringt den Gemeindemitgliedern per Streaming auch den Gottesdienst nach Hause. Für die nächsten Wochen ist es ebenfalls die einzige Möglichkeit, um den Schabbat miteinander zu feiern – und Pessach. »Wir sprechen am Freitagabend mit meinen beiden erwachsenen Söhnen über FaceTime den Schabbatsegen«, sagt Francis Bloch, ein pensionierter Anwalt. Auch Pessach wird er alleine zu Hause mit seiner Frau verbringen – ohne die Kinder und den Enkel. »Wir werden ein Fest auf Distanz feiern.«
Bloch tut damit genau das, was Emmanuel Macron fordert. »Die Feste können nicht mehr auf die gewohnte Weise organisiert werden«, sagte der Präsident den Vertretern der Religionen, die er Ende März im Elysée-Palast empfing. Nicht nur Pessach, auch das christliche Osterfest und der Beginn des muslimischen Ramadan Ende April werden in diesem Jahr anders als sonst ablaufen, stellte Macron klar.
SEDER An ein traditionelles Sedermahl im Kreis der Familie ist momentan ohnehin nicht zu denken. »Wir müssen dafür sorgen, dass so viele Leute wie möglich zu Hause bleiben«, appelliert Roos an alle Gemeindemitglieder.
In den koscheren Läden gelten strenge Hygiene-Vorschriften.
Auch die üblichen Großeinkäufe vor Pessach sollen deshalb ausfallen. In den koscheren Geschäften gelten ohnehin schon strenge Hygieneregeln. Die Kassiererinnen sitzen mit Masken hinter ihren Kassen, und es werden nur jeweils zwei bis drei Kunden in den Laden gelassen.
Der französische Oberrabbiner Haïm Korsia zerstreut Bedenken, dass es rund um die Feiertage zu Engpässen kommen könnte. »Ich habe die großen Fleischproduzenten befragt und kann mit Blick auf Pessach sagen: Es gibt kein Problem bei der Versorgung«, sagt er in Radio Shalom. Szenen wie kurz vor Beginn der Ausgangssperre, als sich in den koscheren Metzgereien von Paris die Menschen drängten, sollen sich nicht wiederholen.
Die logistische Organisation von Pessach macht auch Rabbi Michel Serfaty Sorgen. Dass die 150 Familien, die zu seiner Gemeinde in der Pariser Vorstadt Ris-Orangis gehören, zu Hause bleiben, ist für ihn klar. Doch wo sollen die jüdischen Bewohner der Banlieue ihre Mazze herbekommen? Die Läden sind oft weit weg, und die Ausgangssperre verpflichtet dazu, nur in der Nachbarschaft einzukaufen. Wer dagegen verstößt, muss 135 Euro Strafe zahlen. »Wir organisieren einen Lieferservice«, sagt Rabbiner Serfaty. Nicht nur Brot, sondern auch Wein und Fleisch sollen so direkt zu den Betern nach Hause kommen.
WANGENKUSS Der 78-Jährige hatte schon früh in seiner kleinen Synagoge Vorsichtsmaßnahmen gegen die Verbreitung des Virus ergriffen. »Ich will nicht verantwortlich sein für eine Ansteckung«, sagt er. Deshalb mussten die Gemeindemitglieder zwischen sich jeweils einen Stuhl frei lassen.
Serfaty verbot ihnen außerdem, sich mit »la bise«, dem in Frankreich üblichen Wangenkuss, zu begrüßen oder die Tora zu berühren. Mitte März schloss er dann die Synagoge ganz.
Auch die jüdische Schule, für die er verantwortlich ist, machte er dicht. »Die Schließung der Schulen wird von den ultraorthodoxen Juden kritisiert, denn das Studium der Tora darf niemals aufhören«, sagt er. Doch die Kinder sind nun einmal ein wichtiger Übertragungsweg. Und die Gesundheit geht für ihn vor.
Wer gegen die Ausgangssperre verstößt, muss 135 Euro Strafe zahlen.
Der jüdische Religionsunterricht findet nun in Ris-Orangis wie überall im Land über das Internet statt. Die Gebete verrichtet jeder bei sich zu Hause. Auch Serfaty, ein pensionierter Hebräisch-Professor, macht das so. Der frühere Basketballspieler verbot sogar seinen vier Kindern und zwölf Enkeln, ihn zu besuchen. Er bleibt mit seiner Frau zu Hause und geht nur einmal am Tag eine halbe Stunde in den Garten, um Gymnastik zu machen.
ANTISEMITISMUS Serfaty ist über Ris-Orangis hinaus bekannt, denn er engagiert sich seit Jahrzehnten für die Verständigung zwischen Juden und Muslimen. Wie stark der Antisemitismus junger Muslime in der Pariser Banlieue ist, hatte er 2003 am eigenen Leib zu spüren bekommen, als er zusammen mit seinem Sohn vor seiner Synagoge überfallen wurde.
Seither zieht er durch das ganze Land, um gegen antisemitische Vorurteile anzukämpfen. Die Corona-Krise dürfte ihm dabei noch mehr Arbeit geben. Denn mit der Krankheit breiten sich auch judenfeindliche Verschwörungstheorien aus.
»Natürlich beobachten wir wieder antisemitische Phänomene«, sagt Thierry Roos. »Zum Beispiel die Behauptung, dass die Juden ihre Synagogen weiter geöffnet halten.« So ist etwa die frühere Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, Tochter eines Schoa-Überlebenden, in den sozialen Netzwerken Ziel antisemitischer Hetze.
Und in Villepinte, einer Pariser Banlieue, teilte der Spitzenkandidat des rechtsextremen Rassemblement National, Alain Mondino, ein antisemitisches Video, das das Coronavirus den Juden zuschreibt, die damit »ihre Vorherrschaft ausbauen wollen«. Die Partei von Marine Le Pen, deren Kandidaten schon mehrfach durch antisemitische Parolen aufgefallen waren, strich Mondino daraufhin für die Kommunalwahlen von ihrer Liste.
Die frühere Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, Tochter eines Schoa-Überlebenden, wird wegen Corona judenfeindlich attackiert.
Traditionell ist die letzte Woche im März in Frankreich der Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus gewidmet. Doch in diesem Jahr lagen alle Aktionen auf Eis.
Auch Serfaty musste seine Auftritte absagen. Er verlässt sein Haus lediglich, um Beerdigungen abzuhalten. Für diese Zeremonien, die nur noch auf dem Friedhof stattfinden, gelten strenge Regeln. Auf höchstens 20 hat die Regierung die Zahl der Teilnehmer festgelegt. »Ich achte darauf, dass sie Abstand halten«, sagt Serfaty.
Der Rabbi selbst trägt einen FFP2-Mundschutz mit Atemfilter, der wirksamer ist als die normalen Krankenhausmasken. Außerdem setzt er eine Schutzbrille auf und zieht Handschuhe über. »Ich verbiete den Trauernden, den Sarg anzufassen«, sagt Serfaty. Denn die Strategie der Distanzierung gelte nicht nur für die Lebenden, sondern auch für den Kontakt mit den Toten.