Ukraine

Fern von daheim

Ukrainische Flüchtlinge an einer Grenze in der Region um Rostow Foto: dpa

Die russische Annexion der Krim im März 2014 und der Krieg in der Ostukraine haben den Alltag vieler Menschen radikal verändert. Laut den Statistiken der Vereinten Nationen sind fast 1,6 Millionen Ukrainer zu Binnenflüchtlingen geworden. Sie haben das von Kiew nicht kontrollierte Gebiet verlassen und leben nun in anderen Teilen der Ukraine.

»Es ist eine extreme Herausforderung für das Land«, sagt der ukrainische Ministerpräsident Wolodymyr Grojsman. Man wolle alles dafür tun, dass sich die Flüchtlinge in anderen Städten der Ukraine wohlfühlen.

hauptstadt »Davon spüre ich nichts«, sagt die 36-jährige Oxana. Sie stammt aus der Krim-Hauptstadt Simferopol, wo sie ein kleines Restaurant betrieb. Wenige Monate nach der Annexion der Halbinsel zog sie zuerst ins südukrainische Cherson und dann weiter in die Hauptstadt Kiew.

»Ich fühlte mich auf der Krim zunehmend unwohl«, sagt Oxana. »Ich fand es merkwürdig, dass so viele Menschen eine militärische Aggression unterstützen. Zwar bin ich beileibe keine ukrainische Patriotin, aber die Annexion der Krim war für mich moralisch inakzeptabel. Doch ich stand mit meiner Meinung ziemlich allein da.«

Hauptgrund für den Umzug war jedoch weniger Oxanas politische Einstellung als die Sorge um ihren damals neunjährigen Sohn, den sie allein erzieht. Oxana ließ sich ein paar Monate Zeit und beobachtete das Geschehen auf der Halbinsel. Es war, als der Krieg im Donbass ausbrach und die Lage auf der Krim vergleichsweise ruhig blieb.

»Doch schnell hat sich alles genauso entwickelt, wie ich es befürchtete«, erzählt sie. »Die Halbinsel wurde international zunehmend isoliert. Da war ich vor allem daran interessiert, dass mein Sohn später einen anerkannten Schulabschluss bekommt.«

wohnung Die Krim zu verlassen, fiel Oxana, die ihren Familiennamen aus Vorsicht nicht veröffentlicht sehen will, relativ leicht, denn ihr Restaurant lief schlecht. Nach der kurzen Übergangszeit bei Bekannten in Cherson zog sie mit ihrem Sohn nach Kiew. Dort hat sie am Stadtrand eine Zweizimmerwohnung gemietet.

Irgendwann würde sie gern wieder ein kleines Restaurant eröffnen. Sie hofft, dass ihr das vielleicht schon in den nächsten drei Jahren gelingen wird. Derzeit versucht sie, mit zwei Jobs über die Runden zu kommen, als Kellnerin und als Beraterin im Designbereich.

Hat sie vom ukrainischen Staat mehr Unterstützung erwartet? »Ich bin offiziell als Binnenflüchtling registriert, denn mit Wohnsitz Simferopol dürfte ich hier nicht mal ein Bankkonto eröffnen«, sagt sie. Doch diesen Status müsse man ständig erneuern. »Das bedeutet viel Papierkram und noch mehr Kopfschmerzen. Vorteile gibt es für mich nicht, denn für die Behörden verdiene ich zu viel, um die ohnehin minimale materielle Hilfe zu erhalten.«

umzug Ihren Umzug nach Kiew bedauert Oxana nicht; schließlich hat sie das Gefühl, für die Zukunft ihres Sohnes alles richtig gemacht zu haben. Doch es ist nicht die mangelhafte Unterstützung vonseiten des Staates, die die 36-Jährige an der Ukraine enttäuscht. »Wenn ich ganz ehrlich bin, stört mich als Jüdin die ukrainische Geschichtspolitik«, sagt sie. »Manche sagen, dies hätte damit zu tun, dass ich aus Simferopol komme, und wir Krim-Bewohner seien doch alle irgendwie prorussisch. Doch als Jüdin finde ich es ignorant, wie das offizielle Kiew mit den Verbrechen der Organisation der Ukrainischen Natio­nalisten (OUN) im Zweiten Weltkrieg umgeht.«

Die rechts eingestufte OUN, zeitweise von dem umstrittenen Stepan Bandera angeführt, wird heute vor allem im Westen der Ukraine vorrangig positiv als das Gesicht der Kämpfer für die Unabhängigkeit des Landes wahrgenommen. Viele ignorieren, dass OUN-Mitglieder im Krieg die Wehrmacht als Hilfspolizisten unterstützten.

»Die Ansichten der OUN teile ich natürlich nicht, ich sehe sie aber auch nicht ausschließlich negativ«, sagt Oxana. »Doch es ist sehr problematisch, dass die Ukraine offensichtlich große Schwierigkeiten damit hat, die Verbrechen der OUN zuzugeben. Eine echte Demokratie sollte dafür stark genug sein.«

Separatisten Ähnlich wie Oxana schätzen die Situation viele Juden ein, die aus dem von den prorussischen Separatisten kontrollierten Teil des Donbass in das von Kiew verwaltete Gebiet des Landes umgezogen sind.

Zwei von ihnen sind Wladimir und Olga Goldenstejn. Sie flohen vor vier Jahren aus Horliwka. Die Stadt gehört mittlerweile zur selbst ernannten Volksrepublik Donezk. Als sich im August 2014 die Lage dort wieder extrem zuspitzte, entschieden sich die Goldenstejns für den Umzug ins westukrainische Lwiw (Lemberg). Ihr erwachsener Sohn war bereits vor Kriegsausbruch zum Studium nach Kiew gegangen.

»Ich mag Horliwka sehr, und Lwiw ist, optisch gesehen, eine wunderschöne Stadt. Aber man kann die beiden Orte nicht miteinander vergleichen«, sagt der 46-jährige Wladimir. »Lwiw galt schon immer als Hochburg der ukrainischen Nationalisten, deswegen waren wir von vornherein etwas skeptisch.« Doch obwohl nationalistische Kräfte die Stadt prägen, sei Lwiw doch generell recht international und offen.

Wladimirs Frau Olga fügt hinzu: »Natürlich haben wir in den vergangenen Jahren auch erlebt, dass über unseren Familiennamen diskutiert wurde – das kann einem aber überall im postsowjetischen Raum passieren.« Sie habe insgesamt eher den Eindruck, Lwiw kehre sein nationalistisches Image aus PR-Gründen manchmal bewusst heraus, sagt sie. »Vielleicht will man damit Touristen anlocken.«

sorgen Große finanzielle Sorgen mussten die Goldenstejns nach ihrem Umzug nicht erleben. Zwar haben sie ihre Autowerkstatt in Horliwka geschlossen, doch Wladimir arbeitet seit Jahren erfolgreich als Freelancer im IT-Bereich, was schon längst zur Haupteinnahmequelle der Familie geworden ist.

»Wir können nicht klagen. Einiges haben wir verloren. Unsere Wohnung in Horliwka steht leer, finanziell läuft es aber ganz okay«, meint er. Deshalb seien sie auch nicht auf die Hilfe des Staates angewiesen. »Doch wir wissen von Freunden, die ebenfalls geflohen sind – sei es nach Lwiw, Kiew oder Charkiw –, dass die staatliche Hilfe mickrig sein soll. Und das ist schlecht, denn es geht um sehr viele Leute, die einfach überleben müssen, weil die politische Situation sich so gewandelt hat.«

Mit der politischen Ausrichtung Kiews könne sie wenig anfangen, sagt Olga. »Wir waren keine großen Unterstützer der Maidan-Revolution, doch wir haben gehofft, sie würde einiges in Bewegung setzen. Wir haben geglaubt, dass man sich in der Lage, in der sich die Ukraine heute befindet, zu seriöser und verantwortlicher Politik verpflichtet sieht.« Aus Sicht der Goldenstejns ist dies jedoch nicht zu spüren. Vielmehr herrsche nach wie vor »das große politische Theater«, das viel mehr mit dem wirtschaftlichen Gewinn der Oligarchen zu tun hat als mit eigentlicher Politik.

Geschichtspolitik Wie Oxana kritisiert auch Wladimir Goldenstejn die ukrainische Geschichtspolitik. »Ich finde sie sehr kleinmütig«, betont er. »Das offizielle Kiew hat aus meiner Sicht große Angst davor, den Nationalisten zu widersprechen und sie zu verärgern, auch wenn sie in der Bevölkerung keine große Unterstützung genießen.« Aber man wisse eben: »Ein großer Teil ist hervorragend militärisch ausgerüstet und ausgebildet.«

Tatsächlich sind zum Beispiel nationalistische Märsche schon längst zum Alltag der großen ukrainischen Städte geworden.
»Trotzdem fühle ich mich hier in Lwiw eher wohl als unwohl«, sagt Wladimir Goldenstejn. »Ich würde aber gern irgendwann in mein Horliwka zurückkehren, bin mir allerdings nicht sicher, ob das in den nächsten Jahren überhaupt möglich ist.«

Oxana von der Krim äußert sich pessimistischer. Anders als im Donbass habe Russland auf der Halbinsel »knallharte Fakten« geschaffen und werde die Krim aus eigenem Willen wohl niemals zurückgeben, meint sie. »Aber tief im Herzen will ich immer noch daran glauben, dass irgendwann alles wieder wie vor 2014 sein wird.«

Doch gerade der Krieg im Donbass geht weiter, Tag für Tag. Zwar haben sich die Kriegsaktivitäten seit der Unterzeichnung des zweiten Minsker Friedensabkommens im Februar 2015 stärker auf die eigentliche Frontlinie reduziert, doch wird weiterhin von beiden Seiten auch dort geschossen, wo Menschen leben.

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