Ein halbes Jahr ist es her, da veröffentlichte der französische Philosoph und Publizist Bernard-Henri Lévy ein gemeinsames Foto mit der weißrussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Seine apologetische, im Westen viel beachtete Reportage über jene »Muse der Revolution«, die das »groteske und blutrünstige« Regime des mit Russland eng verbundenen Diktators Alexander Lukaschenko herausforderte und Lévy an die junge Angela Merkel und gar an Jeanne d’Arc erinnerte, erschien am 22. August im Pariser »Journal du Dimanche«.
In Russland und in Belarus geriet der Verfasser daraufhin ins Kreuzfeuer, wobei sich in sozialen Netzwerken krude Verschwörungstheorien über ein neues »jüdisches Komplott« verbreiteten: Die absichtlich als Jüdin oder Israelin dargestellte Tichanowskaja habe einen Umsturz in Belarus angezettelt, dessen wahre Hintermänner die Juden, nämlich der amerikanische Philanthrop George Soros und der französische Philosoph Lévy, seien.
Der Kreml zeichnet Lévy als »graue Eminenz des militanten Liberalismus«.
Während aber Soros in der Regel nicht als Jude in Erscheinung tritt, führt Lévy seine publizistische und politische Tätigkeit nicht zuletzt auf seine jüdische Identität zurück. Der Franzose sieht sich in den Fußstapfen des biblischen Propheten Jona: So wie Jona in Gottes Auftrag in Ninive predigen sollte, habe er einen großen Teil seines Lebens und viel Energie in die Verbreitung liberaler demokratischer Werte unter Nichtjuden und sogar unter Antisemiten investiert.
KONTROVERS In Frankreich besitzt BHL – dieses Kürzel ist seit Jahren Lévys Markenzeichen – als Mitbegründer der antitotalitären und marxismuskritischen Nouvelle Philosophie, als kontroverser Publizist und Filmemacher längst einen Kultstatus. Auch in Deutschland ist er als exzentrischer Denker bekannt, der gern provoziert, polarisiert und gezielt das Rampenlicht sucht.
So präsentierte er sich in den frühen 2010er-Jahren als begeisterter Anhänger des Arabischen Frühlings, der zum Sturz von Russlands Partnern Muammar al-Gaddafi in Libyen und Baschar al-Assad in Syrien aufrief.
Darüber hinaus widmete Lévy sich zunehmend dem postsowjetischen Raum, den der Kreml als seinen Hinterhof betrachtet: In Georgien unterstützte BHL den prowestlichen Staatchef Micheil Saakaschwili und machte Moskau für den russisch-georgischen Krieg 2008 verantwortlich.
euromaidan Vom ukrainischen Euromaidan 2013/14 und der weißrussischen Protestbewegung 2020 angetan, erklärte er, dass Europas Schicksal in diesen postsowjetischen Staaten entschieden würde. Putins Russland stellte Lévy als gefährlichen Gegner der liberalen Demokratie dar.
Lévys Engagement in Georgien, in der Ukraine und in Belarus – gepaart mit seiner vernichtenden Kritik der russischen Innen- und Außenpolitik – brachte ihm in Moskau den Ruf eines überzeugten Russlandhassers ein.
Bereits 2015 setzte der Kreml den Franzosen auf die »schwarze Liste« der Personen, denen die Einreise nach Russland untersagt ist. Gleichzeitig konstruierte die russische Staatspropaganda ein abstoßendes, für den Egozentriker Lévy jedoch durchaus schmeichelhaftes Feindbild einer »grauen Eminenz des militanten Liberalismus«, eines »radikalen Globalisierers« und »heimtückischen Drahtziehers« des Euromaidan und weiterer Umstürze: Den Ländern, die dieser »blutrünstige Aasgeier« in den Blick nehme, drohe Chaos und Untergang. BHL gilt ferner als korrupter wohlhabender Bonvivant, der seit den 80er-Jahren im Élysée-Palast ein- und ausgehe und die französische Politik geschickt manipuliere, ebenso als unmoralischer Intrigant, der jeglichen Anstand vermissen lasse.
Rothschild Dieses antisemitisch angehauchte Narrativ rekurriert auf tradierte judenfeindliche Stereotype und Verschwörungstheorien in postsowjetischen Gesellschaften und knüpft an die sowjetische antiisraelische Propaganda an, die Frankreich als ein von Zionisten (Juden) dominiertes »Land der Rothschilds« darstellte.
Die in sozialen Netzwerken thematisierte jüdische Herkunft Lévys wird in der russischen und weißrussischen Staatspropaganda in der Regel extra nicht hervorgehoben. Allerdings gilt allein der biblische Name Lévy als Chiffre, die antisemitische Assoziationen hervorrufen soll.
Besonders brisant ist, dass das Feindbild BHL ausgerechnet im Umfeld des einflussreichen russischen Fernseh- und Radiomoderators Wladimir Solowjow entstand. Solowjow inszeniert sich bewusst als Jude und Nachkomme von Holocaust-Opfern und ist als glühender Anhänger von Präsident Putin bekannt. Er setzt bewusst auf die »jüdische Karte«: wobei »gute« (kremlfreundliche) Juden gefeiert, »schlechte« (kremlkritische) Juden wie etwa russische liberale Politiker jüdischer Herkunft, der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj und dessen vermeintliche Strippenzieher Soros und Lévy jedoch angegriffen werden. Wladimir Putin wird als Israel- und Judenfreund gezeigt, der von Lévy gelobte Kremlkritiker Alexej Nawalny gar als Antisemit und Faschist verunglimpft.
Lévy sieht sich in den Fußstapfen des biblischen Propheten Jona.
Ein Jude, der eine antisemitische Verschwörungstheorie fleißig verbreitet? Das scheinbare Paradox lässt sich leicht erklären. Solowjow und seine jüdischen Kollegen stehen in der Tradition des wohl radikalsten russischen BHL-Kritikers Alexander Dugin.
neue rechte Der Philosoph Dugin, der an der Spitze der Internationalen Eurasierbewegung steht, sympathisiert mit der europäischen Neuen Rechten und sieht sich als Vorkämpfer gegen Liberalismus und Globalisierung. In seiner Jugend radikal antisemitisch, differenziert er heute zwischen östlich (eurasisch) und westlich geprägten russischen Juden. Letztere seien Russlands Feinde, genauso wie der von Dugin zutiefst verachtete »jüdische Weltbürger« und »Apostel der liberalen Demokratie« BHL.
Gehört das Feindbild Lévy nunmehr zum festen Arsenal von Putin- und Lukaschenko-Propagandisten? Wohl ja. Ein Beispiel bestätigt diese Tendenz: Nach dem Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar verurteilte BHL den von Donald Trump angestachelten Mob als »groteske Faschisten«. Die Reaktion aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten: Man erklärte den jüdischen Philosophen zum »Goebbels der Gegenwart«. Das antisemitische Narrativ wurde somit durch eine nationalsozialistische Facette ergänzt.