Mitten im Londoner Szeneviertel Shoreditch, entlang der Graffitiwände, die sich ebenso wie die Trendboutiquen stets verändern, hat sich eine junge Frau niedergelassen. Um in ihr kleines Kellerstudio zu gelangen, muss man die Räume von Modedesignerinnen und Opernregisseuren durchqueren. Hinter der Tür des Ateliers eröffnet sich ein rund 15 Quadratmeter kleiner Raum: in dessen Mitte eine Staffelei, an den Wänden zahlreiche Gemälde hintereinander aufgereiht, in Regalen und auf dem Boden Farbtuben und Pinsel.
Zwar hat der Raum keine Fenster, umso kräftiger jedoch glühen manche der Farben von den Gemälden, auf denen sich jüdische Themen mit Naturmotiven und Szenen von Shakespeare mit einem Hauch von Chagall, Goya, Picasso und Matisse verweben. Der Besucher betritt den Mikrokosmos einer Wunderwelt.
Sie fand als junges Mädchen Zuflucht
im Malen.
Das kleine Atelier ist der momentane Arbeitsplatz der 1987 in Moskau geborenen Malerin Roza Horowitz. »Roza – so hieß meine Urgroßmutter. Sie sprach Jiddisch«, sagt die Künstlerin, die zwischen den großen Bildern recht klein wirkt. Sie trägt einen schlichten rosa Pullover und eine runde Brille. Ihr Englisch hat einen niederländischen Akzent – obwohl ihre Muttersprache Russisch ist.
Ihre Mutter zog mit ihr als Kind von Moskau in die niederländische Stadt Leiden. Die Freiheit dort und die Chancen, die sich in den Niederlanden boten, schätze sie bis heute, sagt Roza Horowitz.
MOBBING Doch Leiden war auch der Ort ihrer größten Peinigung. Auf einem christlichen Gymnasium wurde sie Opfer wiederholter antisemitischer Angriffe. Horowitz schildert traumatisierendes Mobbing und Gewalt gegen sie, die erst endeten, nachdem sich ihre Mutter bei den niederländischen Behörden beschwert hatte.
Zuflucht fand das junge Mädchen aus Russland im Malen. Die Begeisterung dafür hatte bereits in Moskau begonnen. »Meine Mutter hatte ein russisches Kunstbuch für Kinder. Sie las Märchen und Geschichten vor, und ich sollte dazu etwas malen.« Eine weitere Inspirationsquelle für Horowitz waren die Tiere im Moskauer Tierpark.
Die antisemitischen Vorfälle in Leiden führten dazu, dass Roza Horowitz das Gymnasium wechselte. Ihre letzten beiden Schuljahre konnte sie in Den Haag an der Schule für Nachwuchstalente beenden. Danach begann sie, an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste zu studieren, einer der ältesten Kunsthochschulen der Welt.
»Einige in meiner Familie, wie meine Tante in Tel Aviv, glauben bis heute, dass ich mir besser eine lukrativere Karriere hätte aussuchen sollen«, sagt Horowitz. Sie sei die Erste in der Familie, die sich dafür entschieden hat, die Kunst zum Beruf zu machen, nicht zuletzt auch dank ihrer Mutter, die sie unterstützt und sehr kunstinteressiert ist.
FEHLENTSCHEIDUNG Die wahre Fehlentscheidung ihres Lebens sei nicht die Kunst gewesen, sondern ihre frühe Heirat, sagt sie. Die Ehe mit einem jüdischen Niederländer hat nicht lange gehalten.
Nach der Trennung führte sie ihre Suche nach geeigneten Kunsthochschulen an die Londoner Slade School of Fine Art. »Es war vor allem das Versprechen auf weiteres Experimentieren, aber auch die Menschenvielfalt und Diversität der britischen Hauptstadt, die mich lockten«, sagt sie.
Für die junge Künstlerin schien es der richtige Schritt gewesen zu sein. Bereits im ersten Jahr sprach sie bei einer Ausstellung von Arbeiten über die Schoa einer der wichtigsten britischen Kunstkritiker, Mel Gooding, an und lobte sie. Und inzwischen erhält Horowitz durch das Irving-Wernick-Stipendium auch finanzielle Anerkennung.
Seit einigen Jahren interessiert sie sich zunehmend für Shakespeares Dramen.
Doch die junge Künstlerin hatte auch mit Hindernissen zu kämpfen. So waren ihre früheren Werke vielen thematisch und in ihrer Ausführung zu düster. Auf dem freien Kunstmarkt lassen sich solche Bilder schwerer verkaufen.
motive Ihre Hochschulmentorin Lisa Milroy ermunterte Horowitz schließlich, ihre Geschichten mit helleren Farben zu dokumentieren. Seitdem begleiten leuchtendes Blau, glühendes Gelb, helles Grün und Lilatöne ihre oft minimalistischen Motive.
Gleichzeitig begann Horowitz, sich von natürlichen Formen inspirieren zu lassen und mit satirischen und zweideutigen Darstellungen zu experimentieren. »Nach einer kurzen Übergangsphase ist es mir schließlich gelungen, meine eigene Stimme wieder zur Geltung kommen zu lassen, doch diesmal mit dem Unterschied, dass es für die Betrachter einladender wirkt«, sagt sie.
Es mag die britische Hauptstadt sein, die dazu geführt hat, dass sich Horowitz seit einigen Jahren zunehmend für Shakespeares Dramen interessiert. Doch sie begeistert sich nicht nur für englische Inszenierungen, sondern auch für die alten sowjetischen, an die sich ihre Mutter noch erinnert. Und so findet man im Atelier unter ihren Bildern auch Szenen aus Macbeth, dem Sommernachtstraum und König Lear.
Insgesamt ergeben die Motive ihrer Bilder eine Mischung aus russischer Märchenwelt, jüdischer Geschichte und Naturszenen. Andere Themen, die sie gerne bearbeitet, sind ihre Erfahrungen als Künstlerin und Frau sowie Menschen, die ihr nahestehen.
East END Dass ihr heutiger Arbeitsort genau im Herzen des ehemaligen jüdischen East End liegt, sei Zufall, meint Horowitz. Shoreditch ist eben auch allgemeines Kunstzentrum. Und dennoch: Durch ihre Migration von Moskau nach London hat es die junge Frau geschafft, dass hier, mitten in diesem inzwischen fast zu hip gewordenen ehemaligen Slum der Flucht, endlich auch wieder jüdische Künstler präsent sind.
Horowitz wünscht sich, dass viele Jahrzehnte früher auch ihre Vorfahren ausgewandert wären. »Mein Ururgroßvater Mosche und seine Frau Mina bestanden trotz Warnungen darauf, in ihrem ukrainischen Städtchen zu bleiben. Dies kostete sie während der Schoa das Leben.«
In einem ihrer jüngsten Bilder – sie hat ihm den Titel »Purim« gegeben – behandelt Horowitz derartige Lose des Schicksals. Auf dem feurigen Bild ist sowohl die Bedrohung einer jüdischen Gemeinschaft durch Haman in Nazigestalt zu erkennen, als auch die Möglichkeit einer aufblühenden Zukunft zweier Menschen in Form zerbrechlicher seltener Wiesenblumen. Auf den zweiten Blick erscheint auch Haman als Blume.
»Gott gibt allen Menschen zwei Chancen«, sagt Horowitz über ihre Ururgroßeltern. »Doch was sie daraus machen und wählen, ist ihnen überlassen.« Genau dieser Kern scheint tief verborgen auch in ihren Bildern zu stecken.