An einem Reihenhaus in einer ruhigen Seitenstraße in Cambridge steht auf einer kleinen Kachel neben der Klingel ein Familienname. Doch nur wenige können ihn lesen, denn er ist auf Hebräisch geschrieben: Goldhill. Daneben, am rechten Türpfosten, hängt eine Mesusa.
Um die Ecke gibt es einen türkischen Friseur, einen Fleischer aus Bangladesch, koreanische und italienische Restaurants, eine Baptistenkirche, eine Moschee und ein kleines Stück weiter entfernt eine Synagoge.
In dieser bunten Gegend wohnen seit vielen Jahren Shoshana und Simon Goldhill sowie ihre inzwischen erwachsene Tochter Sarah. Shoshana ist Familienanwältin und kommt ursprünglich aus New York. Simon wurde in London geboren und lehrt seit etlichen Jahren in Cambridge Altertumswissenschaft. Die Familie ist jüdisch, Tochter Sarah wuchs hier auf.
Seit anderthalb Jahren haben die Goldhills ein weiteres Familienmitglied, den inzwischen 23-jährigen Faraj Alnasser. Er sitzt zwischen Simon und Shoshana auf dem roten Sofa im Wohnzimmer.
Shoshana Goldhills Vorfahren waren Migranten aus Osteuropa.
Der junge Mann stammt aus der syrischen Stadt Aleppo. »Die vielen Leute hier in Cambridge, die Arabisch sprechen, haben es mir in der ersten Zeit ein bisschen einfacher gemacht«, sagt er über die multikulturelle Gegend, in der er nun lebt.
Faraj trägt kurzes Haar, Dreitagebart, ein hellblaues Baumwollhemd und Jeans. Seine strahlenden dunklen Augen blicken durchdringend und neugierig in die Welt.
STREIT Vor einigen Jahren, Faraj war damals 17, flüchtete er mit seiner Familie vor dem Krieg aus Aleppo. Zuerst waren sie einige Zeit in der Türkei, dann reisten sie weiter nach Ägypten. Dort gab es heftigen Streit zwischen ihm und seiner Familie. Sie fanden keinen Kompromiss, und so brach Faraj auf eigene Faust nach Europa auf: Er reiste zurück in die Türkei, dann weiter nach Griechenland, Ungarn, Österreich, Deutschland, Frankreich und schließlich nach Großbritannien. Dort beantragte er Asyl – und hatte Erfolg.
Für ein Jahr wiesen ihm die Behörden einen Platz in einem staatlich finanzierten Wohnheim zu. Es lag weit im Norden Englands in Huddersfield, einer einst stolzen Textilindustriestadt, die sich heute jedoch in einer wirtschaftlich schwachen Region mit vielen verarmten Ecken befindet.
Am Anfang hat es viele Diskussionen über die Ursprünge von Islam und Judentum gegeben.
»Ich war etwas überrascht über den teilweise schäbigen Zustand Großbritanniens«, gesteht Faraj und meint nicht nur das Zimmer, in dem er lebte, sondern auch die anderen Heimbewohner: Obdachlose, Alkoholiker, Drogensüchtige.
Es fiel ihm schwer, sich dort eine Zukunft vorzustellen. Zudem gab es für ihn keinerlei Hilfeleistungen wie Englischunterricht oder eine Ausbildung.
ORGANISATION Als das Jahr um war, wusste Faraj nicht, wie es weitergehen sollte. Da erzählte ihm ein Bekannter von der Organisation »Refugees at Home« (Flüchtlinge zu Hause). Die Organisation vermittelt Flüchtlingen eine Bleibe in britischen Familien. »Ich bewarb mich und erhielt zwei Optionen, eine Familie in Hastings, ganz im Süden Englands, und eine in Cambridge. Man sagte mir, in Hastings kann man gute Partys feiern, in Cambridge etwas lernen.«
Faraj entschied sich für Cambridge – ohne zu ahnen, dass er im Haus eines echten Cambridge-Professors landen würde.
Die Goldhills selbst hörten von dem Projekt, als die Gründerin der Organisation in ihrer Synagoge einen Vortrag hielt. »Wir waren sofort dabei«, sagt Shoshana, »schon lange hatten wir etwas für Flüchtlinge tun wollen.« Shoshanas Vorfahren sind Migranten aus Osteuropa. Und Simon, dessen Familie schon länger in Großbritannien lebt, sagt, dass letztendlich alle Menschen die Nachfahren von Flüchtlingen sind.
So kam es, dass Shoshana und Simon Goldhill eines Tages Faraj am Bahnhof in Cambridge abholten.
»Überall im Land hatte man mir bisher viele Fragen gestellt«, erinnert sich Faraj, »und hier traf ich auf eine Familie, die bereit war, mich zu Hause aufzunehmen – und sie stellten überhaupt keine Fragen, sondern sie akzeptierten mich so, wie ich bin.«
Noch auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause setzte Shoshana Faraj über etwas sehr Wesentliches in Kenntnis. »Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass wir jüdisch sind, und fragte ihn, ob ihm das etwas ausmache.«
Faraj sagte, er habe keine Probleme damit, auch wenn man ihm in Syrien so manches Negative über jüdische Israelis erzählt hatte. Im Gegenteil, er war am Judentum interessiert.
Am Anfang habe es viele Diskussionen über die Ursprünge von Islam und Judentum sowie über Abraham, Ismael und Isaak gegeben, erzählt Shoshana. Bald danach war man im Fasten vereint, denn die Goldhills hatten Jom Kippur, und Faraj beging zur gleichen Zeit das Aschura-Fest.
Simon berichtet, dass Faraj, der aus einer religiösen Familie kommt, fünfmal am Tag betet. Aber: »Oft geht er samstags auch mit uns in die Synagoge.«
FLÜCHTLINGSGEGNER Antisemitismus hat Faraj bisher nur in Syrien kennengelernt. Aber in Großbritannien sind ihm Menschen begegnet, damals in Huddersfield, die von ihm mit bösartigen Worten verlangten, das Land zu verlassen.
Das alles habe mit diesem Unsinn der menschlichen Reinheit zu tun, doziert Simon Goldhill, ganz der Herr Professor. »Diese Idee hat so viele Menschen zu Flüchtlingen gemacht.« Viele Flüchtlingsgegner, die sich in ihrer Argumentation auf Europa beziehen, wüssten nicht, dass der sogenannte philosophische Ursprung Europas zum Teil auch im heutigen Syrien liege. »Man denke nur an Lucius.«
Der 23-jährige Faraj holt zurzeit seinen Mittelschulabschluss nach.
Faraj ist von seiner neuen Familie begeistert. Oft kochen sie gemeinsam, und Shoshana und Simon kennen inzwischen zahlreiche syrische Gerichte und schwärmen davon. Nur manchmal, räumt Faraj ein, gebe es kleine Familienstreitereien. »Das mag ich gar nicht, aber es dauert nie lange.«
Seit sie Faraj kennen, stehen die Goldhills der britischen Regierung weitaus kritischer gegenüber als früher. »Wie er hier am Anfang behandelt wurde, ist nicht zu fassen«, empört sich Shoshana.
Faraj will in den nächsten Monaten und Jahren vor allem sein Englisch auf ein akzeptables Niveau bringen. Danach möchte er einen Beruf lernen, mit dem er der Gesellschaft etwas zurückgeben kann, wie er sagt.
Voller Wissbegier und Enthusiasmus macht er zurzeit seinen Mittelschulabschluss. Dass seine Mitschüler acht Jahre jünger sind als er, ist ihm dabei egal.
Den Goldhills scheint Faraj mittlerweile ans Herz gewachsen zu sein. Gern wollen sie ihm mit all seinen Plänen noch eine Weile zur Seite stehen – »bis er ganz selbstständig ist«.