Bis ins 15. Jahrhundert kann Marcos Tulio Cabrera Coronel die Geschichte seiner Vorfahren zurückverfolgen. »Die ersten bekannten Personen, die die Nachnamen Cabrera und Coronel trugen, waren sefardischer Herkunft und bekleideten seit der Zeit der Könige von Spanien wichtige Positionen am Hof«, erzählt der 66-jährige Chemieingenieur und Finanzexperte, der mit seiner Frau in Valencia in Venezuela lebt.
»Abraham Senior war ein jüdisch-spanischer Bankier und Politiker, der als Oberrabbiner von Kastilien eine hohe Position im kastilischen Adel innehatte. 1492 konvertierte er unter dem Namen Fernando Núñez Coronel zum Christentum und begründete das Adelsgeschlecht der Coronel.« Andere verließen das Land. Seit mehr als neun Generationen ist Cabreras Familie in Venezuela ansässig.
Manche Gemeinden werfen der Regierung Antisemitismus vor.
Als die spanische Regierung 2015 ein Gesetz verabschiedete, das Menschen sefardischer Abstammung als »Wiedergutmachung« für die 1492 begonnene Vertreibung der Juden die Staatsbürgerschaft gewährt, stellten auch Marcos Cabrera und acht weitere Mitglieder seiner Familie einen Antrag. Die Antragsteller müssen nicht jüdisch sein, aber mindestens einen jüdischen Vorfahren nachweisen, der während der Inquisition vertrieben wurde. Außerdem müssen sie Spanisch sprechen und einen Einbürgerungstest bestehen.
Nachforschungen Cabrera stellte Nachforschungen über die sefardische Herkunft der Familie an, holte Bescheinigungen von jüdischen Institutionen in Israel, den USA und Venezuela ein und beauftragte einen angesehenen spanischen Anwalt, bei der Antragstellung zu helfen. »Ein Dokument musste von jedem von uns persönlich vor einem spanischen Notar unterzeichnet werden, also mussten wir alle nach Spanien reisen«, erzählt Cabrera.
Die Tests, Studien, Bescheinigungen, Honorare, rechtlichen Formalitäten und die Reise nach Spanien hätten insgesamt mehr als 45.000 Euro gekostet. Auf einen endgültigen Bescheid warten sie noch. »Wir sind zuversichtlich, dass wir unsere spanische Staatsbürgerschaft erhalten werden, trotz der jüngsten Zunahme der Ablehnungen«, sagt Cabrera.
In der Tat gab es seit Jahresbeginn nach Angaben des Justizministeriums bereits mehr als 3000 negative Bescheide. Zuvor war nur eine einzige Person abgelehnt worden, und etwa 34.000 wurden angenommen. Mindestens 17.000 weitere Personen haben bislang noch keine Antwort erhalten. Bis Oktober 2019 konnten Anträge eingereicht werden.
BESCHEIDE Es ist unklar, warum die Welle von Ablehnungen gerade jetzt kommt. Die spanische Regierung erklärt dies damit, dass mehr Anträge bearbeitet würden, und verweist auf die Verzehnfachung der Zahl positiv beschiedener Anträge.
Die Antragsteller aber sind beunruhigt. »Ich kenne mehrere Personen, die abschlägige Bescheide erhalten haben, obwohl sie ebenso vollständige Dossiers eingereicht haben wie die mir bekannten Personen, die einen positiven Bescheid erhalten haben«, erzählt Cabrera und spricht von einer »willkürlichen und rechtswidrigen Änderung der Kriterien durch das spanische Justizministerium ab diesem Jahr«. »Es sieht aus, als gäbe es eine Motivation, die über das Gesetz hinausgeht und die viele als politisch oder rassistisch interpretieren.« Das sei nicht seine persönliche Meinung, so Cabrera; einige jüdische Gemeinden werfen in den sozialen Netzwerken der derzeitigen Regierung in Madrid eine antijüdische Haltung vor.
Das sorgt auch in Spanien selbst für Konflikte. Die Volkspartei (PP) fordert eine Parlamentsanhörung der erst Mitte Juli ins Amt gekommenen Justizministerin Pilar Llop, damit diese »die Gründe für die Verweigerung der Anträge auf Einbürgerung« erläutert. Die Initiative sei auf »die Notwendigkeit zurückzuführen, alle Zweifel über Antisemitismus auszuräumen«, so die PP, in deren Regierungszeit das Gesetz verabschiedet wurde.
Der Dachverband der Jüdischen Gemeinden Spaniens (FCJE) dagegen zeigt sich mit der Umsetzung des Gesetzes zufrieden. Das Justizministerium leiste gute Arbeit, so eine Gemeindesprecherin. Die Ablehnungen hätten »wie in jedem Verfahren verschiedene Gründe: fehlende Unterlagen, nicht frist- und formgerecht eingereichte Unterlagen, von den Antragstellern vorgelegte Dokumente, die ihre sefardische Herkunft nicht belegen, und so weiter«.
Er kenne niemanden, der abgelehnt wurde, sagt Javier Mutal. Der 47-jährige Betriebswirt aus Buenos Aires, dessen Vorfahren aus der Türkei und Griechenland nach Argentinien kamen, erhielt 2019 die spanische Staatsbürgerschaft. »Wir waren Spanier und wurden ausgewiesen«, sagt er. »Die spanische Regierung tut uns also keinen Gefallen, sondern macht Unrecht wieder gut.«
INQUISITION Spanien war einst die Heimat einer blühenden jüdischen Gemeinde. Im Jahr 1492 stellten die spanischen Herrscher auf Drängen der römisch-katholischen Kirche den spanischen Juden ein Ultimatum: Konvertiert zum Katholizismus oder verlasst das Land. Viele flohen ins Osmanische Reich und in den Maghreb.
Die Vorfahren von Jaime Rafael Cheni Camps gingen von Spanien in den Vorderen Orient. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wanderte die Familie Anfang des 20. Jahrhunderts nach Kuba und Mexiko aus.
Kurz nach Verabschiedung des Gesetzes in Spanien stellte der heute 65-Jährige, der an der Fakultät für Biologie der Universität Havanna arbeitet, seinen Antrag. Trotz schneller Bewilligung kritisiert Cheni das Gesetz als »zu umständlich«. »Es gab viele Beschwerden über die hohen Kosten und den mit dem Antrag verbundenen Papierkram.«
Eine Kritik, die Aida Oceransky teilt. »Ich kenne niemanden, der seinen Antrag in Spanien gestellt hat«, sagt die Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Asturiens. »Wir haben alle Interessierten nach Portugal verwiesen.« Das Nachbarland hat ebenfalls ein Staatsbürgerschaftsgesetz für die Nachfahren sefardischer Juden auf den Weg gebracht.
In Spanien fehle der politische Wille, klagt Oceransky. »Es gab schlechte Erfahrungen, weil die Überprüfung der ›Verbundenheit‹ mit Spanien kompliziert ist.« In Portugal dagegen liefen die Verfahren unbürokratischer, und Anträge würden wohlwollender behandelt. Eine Antragsfrist gebe es auch nicht. Alle, die ihre Anträge dort gestellt haben, haben ihre Staatsbürgerschaft bereits, sagt Oceransky. »Portugal ist der Auffassung, dass die Sefarden die Entwicklung fördern und etwas zum Land beitragen werden, während in Spanien das offizielle Gefühl ist, dass man uns einen Gefallen tut. Sie verstehen nicht, warum wir verwurzelt sein wollen und was dahintersteckt.«