Er hoffe auf einen »Augustinus-Moment« für Donald Trump, sagte Henry Kissinger 2017 über den damaligen US-Präsidenten. Auch der Heilige aus Afrika habe bekanntermaßen früher einen Lebenswandel gepflegt, der völlig unvereinbar mit seinem späteren Auftreten gewesen sei. Von einem US-Präsidenten erwarte zwar niemand eine solche Kehrtwende. Aber wenn der Amtsinhaber feststelle, dass der Friede der Welt von seinem eigenen Tun abhängt, trete das alltägliche Klein-Klein doch eher in den Hintergrund.
Bis zuletzt mischte Kissinger mit solchen Apercus in der politischen Szene der Vereinigten Staaten mit. Am Mittwoch nun starb der frühere US-Außenminister und umstrittene Friedensnobelpreisträger im Alter von 100 Jahren in seinem Haus in Connecticut, wie seine Beratungsfirma mitteilte.
Donald Trump ist nur ein Name in der langen Liste der US-Präsidenten seit Dwight D. Eisenhower (1953-1961), die Henry Kissinger nicht selten aus allergrößter Nähe erlebte. Dass man im Weißen Haus nur schwerlich eine Weiße Weste bewahren kann, kalkulierte Kissinger früh mit ein. Der Kalte Krieg zwischen dem kommunistischen Osten und dem kapitalistischen Westen bildete dabei lange den Bezugsrahmen.
Flucht im Sommer 1938
Schon 1957 räsonierte Kissinger in seinem Buch »Kernwaffen und Auswärtige Politik« über den Einsatz von taktischen Atombomben in der sogenannten Dritten Welt oder in Europa. »Mut zum Krieg ist nicht alles, aber ohne den Mut zum Krieg ist alles nichts«, fasst Kissinger-Biograf Bernd Greiner eine Kernbotschaft des Buches zusammen, das den Autor an die Spitzen der Bestseller-Listen katapultierte.
Eine Graue Eminenz der Weltpolitik blieb Kissinger bis zuletzt. Geboren wurde er 1923 in Fürth als Sohn jüdischer Eltern. »Ich spreche nicht oft über mein privates Leben«, vertraute er einmal Filmemacherin Evi Kurz an. In deren Dokumentation »Die Kissinger Saga« wird gleichwohl in Ansätzen deutlich, wie sehr er an seiner Geburtsstadt hängt. Und was es für ihn und seinen jüngeren Bruder Walter bedeutet haben muss, angesichts des wachsenden Drucks der Nationalsozialisten auf die Juden seine Heimat Franken im Sommer 1938 zu verlassen.
Mit Präsident Richard Nixon gelangte Kissinger 1969 endgültig ins Zentrum der Macht. Wirtschaftliche Turbulenzen, Rassenunruhen und der Vietnam-Krieg: Spätestens beim Watergate-Skandal zeigte sich, dass Nixon mit alledem überfordert war. Und Kissinger? Zog die Strippen, erst als Sicherheitsberater, ab 1973 als Außenminister.
Allende-Sturz in Chile
Im gleichen Jahr erhielt Kissinger den Friedensnobelpreis wegen seines Engagements für ein Ende des Vietnamkriegs. Tatsächlich schwiegen die Waffen erst 1975. Und es waren Nixon und Kissinger, die den Konflikt 1969 auf Kambodscha ausgeweitet hatten. Das mitunter janusköpfige Agieren des obersten US-Diplomaten zeigte sich auch in Chile beim Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. In Washington ging damals die Angst vor einem zweiten Kuba samt Fidel Castro um.
Die USA strichen ihre Wirtschaftshilfen für Chile zusammen, die CIA pamperte stattdessen Allendes Gegner. Am Ende stand die bis 1990 dauernde Diktatur von Augusto Pinochet, dem Kissinger einige Jahre nach dem Putsch dankte. »Mit dem Sturz Allendes haben Sie dem Westen einen großen Dienst erwiesen. Andernfalls wäre Chile den Weg Kubas gegangen.«
Eine tatsächlich »beeindruckende Leistung« bescheinigen dagegen auch Kritiker Kissinger im Anschluss an den Jom-Kippur-Krieg im Herbst 1973. »Amerikas Friedensmakler Kissinger schaffte das scheinbar Unmögliche«, so die Schlagzeile des »Spiegel« im Januar 1974. »Statt, wie angedroht, wieder aufeinander zu schießen, unterschrieben Israelis und Ägypter einen Vertrag über einen Truppenrückzug von der Front.« Möglich gemacht habe das Kissingers Pendeldiplomatie und »seine Meisterschaft im Nebeltanz«, urteilt Historiker Greiner.
In Sachen Geheimniskrämerei machte dem ausgebufften Politprofi niemand etwas vor. Bis zuletzt blieb Kissinger ein gefragter Gesprächspartner. Bis zuletzt saß er »15 Stunden am Tag« am Schreibtisch, wie er zu seinem 100. der »Zeit« sagte; er schrieb an einem Buch über Künstliche Intelligenz. »Der Mann ist ein Arbeitstier, der muss arbeiten - er kann nicht Golfspielen«, urteilte Altkanzler Helmut Schmidt einmal über seinen Freund Henry Kissinger.