Schon eine Stunde vor der Vorstellung ist das Foyer des einzigen jüdischen Theaters Ungarns rappelvoll. Denn das »Gólem« in Budapest ist auch ein Café. Hinter dem Tresen bedient der Leiter des Theaters persönlich, András Borgula. Auf den Tischen steht zu lesen: »Europäisch, kontemporär, provokativ und jüdisch«.
Gemäß der Legende war der Golem ein menschenähnliches Wesen, das im 16. Jahrhundert vom Prager Rabbi Löw aus Lehm geschaffen wurde, um die Gemeinde zu verteidigen. Um ihn zum Leben zu erwecken, wurde ihm ein Zettel mit einem Wort unter die Zunge gelegt. Borgula, der in Tel Aviv Regie studiert hat, erklärt: »Uns geht es ähnlich. Wenn wir Stücke aufführen und dabei sozusagen Texte unter der Zunge haben, sind wir voller Leben. Ohne sie wäre das hier nichts anderes als ein hässliches Gebäude.«
Im Gólem werden auch Literatursalons, Leseabende und Workshops organisiert, es bietet auch anderen Theatergruppen Platz und ist so zu einem Zentrum für jüdische darstellende Kunst geworden, das in Europa seinesgleichen sucht.
Liebe, Freundschaft, Rache, Enttäuschung – jedoch immer aus jüdischer Perspektive.
Auf der Bühne des Kammertheaters mit seinen 99 Sitzen werden Themen verhandelt wie in jedem anderen Theater: Liebe, Freundschaft, Rache oder auch Enttäuschung. Jedoch immer aus der jüdischen Perspektive, denn – so meint der Gründer – alles habe immer auch eine jüdische Betrachtungsweise. Minderheiten könnten am glaubwürdigsten von sich selbst dargestellt werden.
Lebensgefühle einiger Minoritäten oft tabuisiert
In den mehr als zwölf Jahren der Orbán-Regierung seien die Lebensgefühle einiger Minoritäten oft tabuisiert worden, so zum Beispiel die der LGBTQ+-Community, der Roma oder eben der Juden. Anstatt darüber offen zu diskutieren, wurden sie oft verschwiegen oder gar verboten. Bis heute werde das Judentum oft klischeehaft als eine angestaubte Religionsgemeinschaft gesehen und vor allem mit dem Holocaust in Verbindung gebracht, was ihn sehr irritiere, denn es sei doch so viel mehr, sagt der 48-Jährige.
Ein wesentlicher Teil der ungarischen Juden sei säkular und wolle nicht als Märtyrer dargestellt werden. Das Theater möchte dazu beitragen, dass sich das ändert. Allerdings soll es auch nicht nur um jüdische Traditionen in einer schöngefärbten Welt gehen, sondern die heutigen Probleme auch säkularer Juden ansprechen. Aber natürlich auch die Glücksgefühle. Und das alles in einer modernen Form.
Die Themen sind nicht immer leicht zu verdauen und werden dem Publikum deshalb oft in einer humorvollen Verpackung dargeboten. Wie zum Beispiel im Stück Bad Jews des amerikanischen Dramatikers Joshua Harmon. Darin streiten sich die drei Enkelkinder des kürzlich verstorbenen Großvaters, eines Schoa-Überlebenden, um ein Erbstück. Die Charaktere könnten nicht unterschiedlicher sein: eine vorlaute Israel-Fanatikerin, ein nicht-observanter Student, der mit einer Nichtjüdin liiert ist und einer, der seine Meinung am liebsten für sich behält. Alle haben Argumente, warum gerade ihnen das Teil zustehe.
Die Komödie verwandelt sich schrittweise in ein Identitätsdrama über Glauben und Familie. Die Dialoge gehen in schrille Monologe über, die manchmal philosophisch, aber auch lustig und vulgär sind. Vor allem sind sie äußerst jüdisch. Es wird langsam klar, dass der legendäre Zusammenhalt der jüdischen Familie gar nicht so selbstverständlich ist, wie oft erwartet wird.
Dass Borgula selbst ein hervorragender Schauspieler ist, beweist er in seiner neuen One-Man-Show, einem persönlichen Abenteuerbuch. Unverblümt erzählt er seine Lebensgeschichte, von der Kindheit im Gulaschkommunismus und im bröckelnden Sozialismus bis hin zur neuen kapitalistischen Wirtschaft. Und davon, wie er mit 14 Jahren zufällig erfuhr, dass er Jude ist. Auch spricht er über seine schaurigen Erfahrungen in der israelischen Armee, die seit dem 7. Oktober 2023 eine ganz neue Bedeutung bekommen haben.
Finanzierung über Unterstützer, Spenden und Kartenverkauf
Als gemeinnütziger Verein finanziert sich das Gólem über Unterstützer, Spenden und Kartenverkauf. »Anstatt uns dem Künstlerischen zu widmen, müssen wir uns viel zu oft mit Geldfragen beschäftigen«, klagt Borgula. Das Jahresbudget betrage nicht einmal 300.000 Euro. Es grenzt an ein Wunder, dass alle Beteiligten es schaffen, mit dieser schmalen Summe alljährlich zwei oder sogar drei Premieren auf die Bühne zu bringen.
Die Schauspieler sind nicht festangestellt, sondern treten als Gäste auf. Auch Multitasking hilft beim Sparen. So backt die Geschäftsführerin, eine ausgebildete Bäckerin, Kuchen für das Café, jeder beteiligt sich am Kulissenbau, und der Direktor bedient eben Kunden.
Doch sofort stellt er mit einem breiten Lächeln klar: »Das Spielen überlassen wir natürlich unseren Akteuren!« Trüb wird sein Gesicht allerdings, als er erzählt, dass die Regierung sein Theater im vergangenen Jahr mit nur rund 9000 Euro unterstützt habe, während die kleine Chabad-nahe Einheitliche Ungarische Israelitische Glaubensgemeinschaft vor vier Jahren etwa 5,7 Millionen Euro für den Bau eines Kulturzentrums erhalten habe, das bis heute nicht fertiggestellt wurde. Doch er bleibt positiv, denn ihm könne niemand vorschreiben, wie er das Theater zu führen habe. Hinter dem Gólem stehe keine Religionsgemeinschaft, kein Staat, keine Partei, nur das Team selbst.
Nach dem 7. Oktober organisierten sie eine Mahnwache, zu der Hunderte kamen.
Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober hat auch das Gólem erreicht. Über Nacht wurden an der Fassade judenfeindliche Plakate angebracht – eher eine Seltenheit in Ungarn. Einige Sponsoren spenden nun lieber direkt nach Israel, wofür Borgula Verständnis hat, aber was finanzielle Probleme verursacht. Das Theater hat einige Tage nach dem Angriff eine nächtliche Mahnwache in unmittelbarer Nähe organisiert, an der Hunderte teilgenommen haben. In den ersten Wochen erklärte Borgula jeden Abend dem Publikum, dass sie nicht aus Respektlosigkeit weiterarbeiteten, sondern um zu zeigen, dass die Juden sich nicht unterkriegen lassen.
Wie groß der Anteil jüdischer Zuschauer sei, könne er nicht abschätzen. Etwa ein Drittel, vermutet er, basierend auf den Reaktionen nach den Aufführungen. Die meisten Besucher seien einfach an der jüdischen Kultur interessiert. Trotz der schwierigen finanziellen Lage der Menschen und der starken Konkurrenz ist das Haus fast jeden Abend ausverkauft. »Wir Ungarn sind theateraffin und verzichten ungern auf Kultur.«