»Ich habe Morddrohungen erhalten. Sie sagten mir: Wir wissen, wo du wohnst, und wir werden uns um dich kümmern«, erzählt der jüdische Anwalt Erick Lebahr aus Toulouse. Die Täter waren junge Leute, sie wollten »sich einfach einen Spaß erlauben«. Das trifft ihn mitten ins Herz, denn Lebahr war im März 2012 zusammen mit seiner Tochter einer der ersten Augenzeugen der Morde des Islamisten Mohammed Merah.
Zwei Jahre nach dem Attentat auf die jüdische Schule »Ozar Hatorah«, bei dem vier Menschen ums Leben kamen, häufen sich in Toulouse antisemitische Vorfälle. »Eigentlich hatte ich gedacht, dass es danach besser wird, es einen Aufschrei in der französischen Gesellschaft gibt«, sagt Lebahr, »doch die Situation hat sich verschlimmert – Merah ist für manche zum Helden geworden.«
Drohungen Die meisten Taten dringen nicht einmal an die Öffentlichkeit, denn »wir wollen unsere Kinder nicht gefährden«. Die von dem Attentat gebrandmarkte Schule, erhält seiner Ansicht nach »etwa zehnmal so viele Drohungen wie zuvor«. Die Schulleitung lehnt jeglichen Kommentar hierzu ab. Die 16-jährige Tochter des Anwalts ist dort noch immer Schülerin.
Vor Kurzem berichteten französische Medien über Schmierereien an mehreren Gebäuden mit juden- und schwulenfeindlichem Inhalt, darunter auch Hakenkreuze. Wenig später organisierte die Initiative Arc-en-Ciel (Regenbogen) eine Demonstration gegen Homophobie und Judenhass, an der auch Vertreter der jüdischen Gemeinde teilnahmen. Rund 2000 Menschen zogen durch die Stadt, unter ihnen Erick Lebahr und die regionale Vorsitzende des repräsentativen Rates der jüdischen Einrichtungen in Frankreich (CRIF), Nicole Yardeni. Doch die vermeintliche Kundgebung gegen Antisemitismus verlief nicht nach Plan. Einige Teilnehmer aus dem linksradikalen Lager beleidigten die CRIF-Vorsitzende, sie riefen: »Yardeni, hau ab, Faschisten, Zionisten, weg mit euch!«
Der Antisemitismus in Frankreich ist längst kein Einzelphänomen mehr, sondern breitet sich vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise in allen radikalen Lagern aus. »Er ist der kleinste gemeinsame Nenner von Leuten, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, von Rechts- und Linksextremen und Islamisten«, stellt Lebahr fest, »es weht der Wind der 30er-Jahre«.
Dieudonné Nach Ansicht von Nicole Yardeni hat der Humorist Dieudonné mit seinen judenfeindlichen Späßen die Stimmung weiter angeheizt. Innenminister Manuel Valls hatte dessen letzte Show in mehreren Städten Frankreichs verboten. »Dieudonné macht Witze über Menschen, die als ein Haufen Asche geendet sind«, empört sich Yardeni. In Toulouse war sein um einige antisemitische Passagen gekürzter Auftritt ein voller Erfolg: rund 6000 Menschen kamen.
Vor Kurzem traf Valls die jüdische Gemeinde beim traditionellen Dinner des CRIF in Toulouse und versprach, dass er in Sachen Antisemitismus »nichts durchgehen« lassen und schnell reagieren werde. »Es gab im vergangenen Jahr zwar weniger antijüdische Vorfälle als noch 2012, doch zögert man inzwischen nicht mehr, seinen Antisemitismus öffentlich zur Schau zu stellen, wie kürzlich in den Straßen von Paris oder hier in Toulouse«, so Valls. Er versprach, sehr entschlossen gegen Antisemitismus, Rassismus und Holocaustleugnung vorzugehen. »Ich verstehe die Sorgen der jüdischen Gemeinde in Toulouse, aber sie weiß auch, dass ich mich diesem Kampf mit Leib und Seele widme«, sagte er.
Alija Unterdessen verlassen viele französische Juden ihr Land in Richtung Israel. Nach Angaben der Jewish Agency waren es im vergangenen Jahr 3120, das sind 63 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Auch viele Freunde von Erick Lebahr haben sich dafür entschieden, nicht mehr länger abzuwarten, sondern Alija zu machen. Er selbst will bleiben und hat zusammen mit Christen und Muslimen einen Gesprächskreis gegründet. Sie versuchen, in Schulen für religiöse Toleranz zu werben. Vielleicht ist es bereits zu spät. Vor Kurzem hat Lebahrs 16-jährige Tochter ihrem Vater eröffnet, dass sie in Israel und nicht in Toulouse studieren möchte.