Die Vorfahren der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück stammen aus Érmihályfalva, einem kleinen Ort mit reicher jüdischer Geschichte.
Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs lag Érmihályfalva in Ungarn und gehörte zur k.u.k. Monarchie. Doch 1918 wurde der Ort mit seinen 6000 Einwohnern, von denen 1200 Juden waren, rumänisch. Er liegt im Westen des Landes und heißt auf Rumänisch Valea lui Mihai.
Erinnerungen Érmihályfalva steht mir selbst sehr nahe, denn es ist der Geburtsort meines Vaters. In vielen seiner Erzählungen und Lebenserinnerungen war die dortige orthodoxe jüdische Gemeinde durch ihre markanten Persönlichkeiten anwesend und lebendig.
Wenn ich nach der Schoa in Budapest mit meinem Vater die Gottesdienste in den Synagogen besuchte, trafen wir häufig Beter, die wie er aus Érmihályfalva stammten, denn dieser Ort hatte seit jeher eine reiche jüdische Tradition.
Bis 1918 war das Städtchen ungarisch und gehörte zur k.u.k. Monarchie.
Wie Louise Glücks Großeltern Heinrich Glück und seine Frau Theresia, geborene Moskovitz, wohl die Nachricht von der hohen Auszeichnung ihrer Enkelin Louise aufgenommen hätten? Beide stammten aus gutbürgerlichen Elternhäusern und waren anerkannte Mitglieder der örtlichen jüdischen Gemeinde. Heinrich Glück betrieb den Holzhandel »Feldmann und Glück«.
Auch die meisten anderen Verwandten von Louise Glück waren wohlhabend und beteiligten sich an der Entwicklung des Ortes. Bekannt war die Familie für ihre Spendentätigkeit. So gehörte ein Onkel von Louise Glück zu den Gründern der großen prachtvollen Synagoge.
großeltern Was die Großeltern im Jahre 1900 während der sogenannten guten alten Zeit zur Auswanderung nach New York trieb, lässt sich nicht ermitteln. Die übrige Verwandtschaft aber blieb im Städtchen. Die Familie Glück beteiligte sich an der Arbeit der örtlichen Sparkasse und der Volksbank. Adolf Glück saß im Vorstand der Kaffeefabrik von Érmihályfalva, und der Familie gehörten auch eine Glasfabrik und eine Damenmodenfirma.
Ein weiteres Mitglied der Familie, Benö Glück, gründete im Jahr 1900 im Ort eine Mühle und benannte sie nach seiner Frau Gizella Horovitz. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es eine der wichtigsten Mahlstätten der Region.
Ich erinnere mich daran, dass mein Vater mir einmal eine besondere Episode aus dem jüdischen Leben des Ortes erzählte: In der Zeit seiner Kindheit führte die große Synagoge elektrische Beleuchtung ein. Der Gemeindevorstand weigerte sich jedoch, die Synagoge mit dem Strom aus den städtischen Elektrizitätswerken zu speisen, da dort auch am Schabbat und an jüdischen Feiertagen Strom produziert wurde.
stromnetz Bei der Renovierung der Synagoge wurden deshalb auf dem Dachboden große Generatoren installiert und vor Einbruch des Schabbats eingeschaltet, um die Synagoge vom städtischen Stromnetz unabhängig zu machen.
Als ich Érmihályfalva 1990 im Rahmen einer Exkursion mit meinen Studenten des Tübinger Ludwig-Uhland-Instituts besuchte, sah ich auf dem Dachboden die noch intakten Akkumulatoren.
Eine weitere wichtige historische Bedeutung kommt der Stadt während des Ersten Weltkriegs zu: Sie war der erste ungarische Ort, an dem sich chassidische Juden auf ihrer Flucht aus der Ukraine und Galizien niederließen. Im Zuge der sogenannten Brussilow-Offensive, dem Durchbruch der russischen Armee an der Ostfront des Ersten Weltkriegs im Jahre 1916, und der darauf folgenden mörderischen Pogrome in der Ukraine und Galizien flohen zum ersten Mal Tausende chassidische Juden samt ihren Familien in die Region.
Die Stadt war der erste ungarische Ort, an dem sich chassidische Juden auf ihrer Flucht aus der Ukraine und Galizien niederließen.
Chassidim hatte man zuvor in dieser Gegend noch nicht gesehen, und mit ihren schwarzen Kaftanen und ihrem andersartigen Gebetsritus erregten sie großes Aufsehen in Érmihályfalva.
Das große Verdienst des Gemeindevorstands war es daher, dass man den Neuankömmlingen das »Tif’eret Bachurim«, ein Gebäude, das bisher als Jugendzentrum gedient hatte, für ihre Gottesdienste und sonstigen Aktivitäten überließ. Auf diese harmonische Weise wurden die Chassidim in die bestehende Gemeinde integriert.
Dichter Wie viele kleine Städte hat auch Érmihályfalva einen berühmten Sohn: Zoltan Zelk (1906–1981). Im kommunistischen Ungarn reüssierte er zunächst als Parteidichter der Kommunisten. Sein Vater war ein sehr beliebter jüdischer Kantor gewesen.
In den 20er-Jahren, nach dem Tod seines Vaters, zog Zelk nach Budapest, suchte dort bald Anschluss an die sozialistische Arbeiterbewegung und wurde deren Mitglied. 1925 wurde sein erstes Gedicht gedruckt. Er überlebte den Arbeitsdienst unter den sadistischen ungarischen Gendarmen in der Ukraine und in Belarus.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte er seine goldenen Jahre. Er veröffentlichte insgesamt mehr als 40 Schriften und etliche Gedichtbände und erhielt mehrere Auszeichnungen. Mitte der 50er-Jahre beteiligte er sich an der antistalinistischen und revolutionären Bewegung. Daraufhin verurteilte das Regime János Kádár ihn und drei weitere jüdische Schriftsteller zu drei Jahren Kerkerhaft.
episode Eine interessante Episode weiß ich noch zu berichten. In den 60er-Jahren erzählte mir in Budapest mein damaliger Englischlehrer Ludwig Gelb, der ebenfalls aus Érmihályfalva stammte und später seinen Familiennamen in Gordon änderte, folgende Geschichte: Er war noch vor dem Ersten Weltkrieg aus Érmihályfalva ausgewandert und hatte die halbe Welt bereist.
In London hatte er als Kellner in dem Klub gearbeitet, in dem auch der Erzähler und Dramatiker W. Somerset Maugham verkehrte. Der Autor wurde neugierig auf den Kellner mit dem charmanten ungarischen Akzent, und die beiden kamen ins Gespräch, wobei der Kellner dem berühmten Autor häufig Witze und Anekdoten aus seiner Kindheit erzählte.
Wie viele kleine Städte hat auch Érmihályfalva einen berühmten Sohn: Zoltan Zelk (1906–1981).
Die Lieblingsanekdote des Kellners handelte vom glücklosen Synagogendiener von Érmihályfalva, dem Schamasch, der, von den Synagogenmitgliedern als nutzloser Analphabet entlassen, nach Amerika auswanderte.
analphabet In Amerika kam er trotz seines Handicaps zu Reichtum und Ansehen, wurde Besitzer eines Konzerns – blieb aber bis an sein Lebensende Analphabet. Auf die Frage, was aus dem berühmten New Yorker Magnaten wohl geworden wäre, hätte er lesen und schreiben können, antwortete er: »Synagogendiener in Érmihályfalva!«
Somerset Maugham inspirierte dies zu seiner Kurzgeschichte »The Verger« (1927). Maugham machte in seiner Version aus dem jüdischen Schamasch einen Küster. Später entstand daraus sogar ein Film.
Gordon aber kehrte noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Érmihályfalva zurück, denn als »feindlicher Ausländer« durfte er nicht länger in England bleiben. Zu Hause angekommen, wurde er deportiert – und überlebte als Einziger seiner Familie die Hölle von Auschwitz.
Ob Louise Glück jemals in Érmihályfalva gewesen ist, weiß ich nicht, doch habe ich gelesen, dass der Bürgermeister des Städtchens die Dichterin eingeladen hat, um ihr den Ort zu zeigen.
Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg. Er wurde 1937 in Budapest geboren.