Frau Naftalieva, das diesjährige Treffen der World Union of Jewish Students (WUJS) findet ab dem 29. Dezember in Berlin statt. Warum fiel die Wahl auf die deutsche Hauptstadt?
Der Plan war, das Treffen in Jerusalem abzuhalten, wo es seit Jahrzehnten stattfindet. Aufgrund der Ereignisse des 7. Oktober 2023 und des anhaltenden Kriegs mussten wir den Kongress jedoch schon letztes Jahr nach Prag verlegen. Dieses Jahr hofften wir, dass alles gut gehen würde, aber nach den iranischen Angriffen auf Israel kamen wir zu dem Schluss, dass wir nicht garantieren können, dass Studierende aus der ganzen Welt sicher nach Israel reisen können. Wir haben 44 nationale jüdische Studierendenverbände, von denen uns jeder als Gastgeber unterstützen könnte. Aber Orte wie Lateinamerika, Australien oder Südafrika waren aufgrund der Entfernung keine Option, da es für viele schwierig wäre, dorthin zu gelangen. Europa war die beste Wahl, und Deutschland ergab viel Sinn.
Warum?
Der erste WUJS-Präsident, Albert Einstein, hat eine historische Verbindung zu Deutschland, und die Situation der Juden in Deutschland heute ist sehr anders als vor vielen Jahren. Es war also eine gute Idee, dorthin zu gehen und zu zeigen, wie sehr sich Deutschland verändert hat.
Im Jahr 1962 weigerte sich die WUJS noch, die jüdischen Studenten aus Deutschland zu akzeptieren.
Seitdem hat sich viel verändert. Heute ist JSUD, die Jüdische Studierendenunion Deutschland, einer der größten und stärksten Verbände, die wir haben. Sie leisten hervorragende Arbeit. Wir wussten auch, dass sie unser Gastgeberverband sein würden, wenn wir nach Berlin umziehen. Wir vertrauen ihnen vollkommen und sind sicher, dass alles reibungslos ablaufen und die Veranstaltung auf einem sehr hohen Niveau organisiert wird.
»Jüdische Studierende werden weltweit ausgeschlossen, diskriminiert und sogar angegriffen.«
Für jüdische Studierende war das Jahr 2024 geprägt vom grassierenden Antisemitismus an Universitäten nach dem Hamas-Angriff auf Israel und dem Krieg in Gaza. Wie würden Sie die Situation jüdischer Studierender beschreiben?
Es war ein hartes Jahr für uns. Ich weiß nicht, ob irgendein anderer WUJS-Präsident mit dem konfrontiert wurde, womit ich es zu tun hatte. Jüdische Studierende werden weltweit ausgeschlossen, diskriminiert und sogar angegriffen. Es gibt keine Ecke der Welt, die sich in dieser Hinsicht als besser hervortut. Natürlich kann man Unterschiede feststellen, aber insgesamt erleben jüdische Studierende an den Hochschulen eine sehr feindselige Umgebung.
Was motiviert Sie persönlich, unter diesen schwierigen Umständen weiterzumachen?
Was mich motiviert, ist, unsere Freunde und Unterstützer zu sehen und wie viele Menschen für uns eingetreten sind. Natürlich sprechen wir viel über diejenigen, die uns nicht unterstützt haben, und das ist herzzerreißend. Viele von uns haben nach dem 7. Oktober Freunde verloren. Aber die Allianzen, die wir aufgebaut haben, und die Unterstützung, die wir von Nicht-Juden erhalten, zeigen mir, dass wir als Juden und als Israel auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Das gibt mir Hoffnung und hilft mir, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
Was tun jüdische Studierende und WUJS, um Antisemitismus an Universitäten zu bekämpfen?
Unsere nationalen jüdischen Verbände berichten uns, dass nach dem 7. Oktober immer mehr Studierende den Verbänden beitreten möchten, weil sie die Diskriminierung sehen, der sie ausgesetzt sind, und verstehen, dass der Verband eine Möglichkeit ist, zurückzuschlagen. Und das tun sie auch: Sie sensibilisieren auf dem Campus für die Geiseln in Gaza, führen Kampagnen zur Unterstützung Israels durch und setzen den Kampf gegen Antisemitismus fort. Zum Beispiel hat WUJS eine Initiative mit Anwälten gestartet: Wenn es einen antisemitischen Vorfall auf dem Campus gibt, können uns Studierende eine E-Mail schreiben, und wir stellen sicher, dass die verantwortliche Person oder Organisation rechtliche Konsequenzen zu spüren bekommt. Auch unser Kongress ist eine Möglichkeit, jüdische Studierende zu unterstützen. Wir bringen 150 Aktivistinnen und Aktivisten, Präsidentinnen und Präsidenten sowie Vorstandsmitglieder zusammen, um ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, Antisemitismus auf dem Campus effektiver zu bekämpfen. Es ist auch eine therapeutische Erfahrung, zusammen zu sein und Silvester zu feiern.
Was steht noch auf der Agenda von WUJS?
Unser wichtigstes Ziel bei jedem Kongress ist es, die Generalversammlung abzuhalten und über Richtlinien abzustimmen. Dieses Jahr haben wir auch Präsidentschaftswahlen. Spoiler: Ich kandidiere.
Und Sie sind die einzige Kandidatin, richtig?
Ja, das stimmt.
Dann stehen die Chancen gut.
Ja, ich denke, ich habe eine Chance. Natürlich werden wir auch Wahlen für den Vorstand abhalten und über die wichtigsten politischen Anträge abstimmen. Diese Anträge bestimmen, worauf wir uns als Organisation im kommenden Jahr konzentrieren werden. Das ist ein wesentlicher Teil unserer Arbeit. Wir werden auch das politische Berlin besuchen und einige Politiker treffen. Es wird einen Award- und Galaabend mit 1920er-Jahre-Motto geben, und wir werden gemeinsam Silvester feiern. Es gibt also viel Freude bei diesem Kongress.
»Ich hoffe, die Situation beruhigt sich, damit wir eine mentale Pause einlegen können.«
2024 war der 100. Geburtstag von WUJS. Was denken Sie als Präsidentin einer solch historischen Organisation über dieses Jubiläum?
Ich glaube nicht, dass sich die Gründungsfiguren Albert Einstein und Hersch Lauterpacht vorstellen konnten, dass der 100. Geburtstag von WUJS in einer Zeit stattfinden würde, in der jüdische Studierende mit solchen Herausforderungen konfrontiert sind. Ich bin sicher, sie dachten, die schlimmsten Zeiten für jüdische Studierende lägen hinter uns. Aber so ist die Situation nun mal. Gleichzeitig glaube ich, dass sie stolz auf die Stärke und Widerstandsfähigkeit der heutigen jüdischen Studierendem wären.
Schauen wir in die Zukunft. Was wünschen Sie sich für jüdische Studierende und WUJS im Jahr 2025?
Mein Wunsch ist, dass wir alle etwas Ruhe finden. Ich hoffe, die Situation beruhigt sich, damit wir eine mentale Pause einlegen können. Es war ein unglaublich schwieriges Jahr. Wie ich oft scherze: Alle jüdischen Studierendenaktivistinnen und -aktivisten sind reif für die Reha. Ich hoffe auch, dass wir uns auf andere wichtige Themen für jüdische Studierende konzentrieren können, abseits vom Kampf gegen Antisemitismus – zum Beispiel die Förderung und Entwicklung des jüdischen Studierendenlebens. Ich wünsche mir, dass wir mehr Zeit damit verbringen können, unsere Gemeinschaft aufzubauen, anstatt sie immer verteidigen zu müssen.
Mit der Präsidentin der World Union of Jewish Students sprach Joshua Schultheis.